Großes Spektrum klanglicher Vielfalt
Organistin Anna-Victoria Baltrusch zeigt beim Konzertabend des Orgelzyklus in der Murrhardter Stadtkirche ihr Können.

© Alexander Becher
Beinahe schon majestätisch mutete das Orgelkonzert in der Murrhardter Stadtkirche zeitweise an. Fotos: A. Becher
Von Petra Neumann
MURRHARDT. Mit einem furiosen Konzert überzeugte die Organistin Anna-Victoria Baltrusch, die zurzeit an der Kirche Neumünster bei Zürich tätig ist, beim Internationalen Orgelzyklus in der Stadtkirche. Mit ihrer Auswahl an vorgestellten Werken zeigte sie nicht nur die Bandbreite ihres Könnens auf, sondern entlockte der Orgel ein ungeheures Spektrum an klanglicher Vielfalt.
Das Werk „Toccata, Adagio und Fuge C-Dur, BWV 564“ des Großmeisters barocker Musik, Johann Sebastian Bach (1685 bis 1750), stimmte die Zuhörer vom ersten Augenblick an auf die nahezu monumentale Herrlichkeit seines musikalischen Schaffens ein. Bach lässt die ersten Töne noch etwas zaghaft die irdischen Sphären betreten, bevor sie sich in den Raum ergießen und diesen mit majestätischem Klang strahlengleich erfüllen. Anna-Victoria Baltrusch interpretierte das Adagio sehr feinfühlig und sensibel, wobei die extrem langen Notenwerte seinen elegischen Charakter betonen. Die Fuge arbeitet gleichsam mit Klangfäden und verwebt sie zu einem vollendet musikalischen Gewebe feinster Arabesken, die einander widerspiegeln.
Auswahl der Werke im Zeichen des Taufgedächtnisses
„Anna-Victoria Baltrusch ist nicht nur eine Künstlerin, sondern eine Kirchenmusikerin durch und durch, denn in ihrer Auswahl an Stücken verweist sie auf den heutigen Sonntag, der im Zeichen des Taufgedächtnisses steht“, erläuterte Gottfried Mayer, Kantor der evangelischen Kirchengemeinde, in seiner kurzen Einführung. „Christ unser Herr zum Jordan kam, BWV 684“ steht zwar noch im Gesangbuch, aber es wird kaum noch gespielt. Sehr interessant ist das Grundmotiv der Wellenbewegung. Dieses Fließen steht nicht nur für die Gesetzmäßigkeit göttlichen Waltens, sondern auch für das Überstrahlen Jesu durch den Heiligen Geist bei der Taufe.
Der Komponist Louis Vierne (1880 bis 1937) war von Geburt an fast blind, doch immer wieder thematisierte er in seinen Werken das Moment diverser Lichterscheinungen. „Clair de Lune“ entführt den Zuhörenden in eine gleichsam magische Welt mit einer Melodie, die sich dem unwirklichen (da gespiegelten) Schein des Vollmondes hingibt und in ein Reich voller Schatten und Befremdlichem eintaucht. Das, was tagsüber rechtwinklig ist, wirkt nachts verzerrt und gelängt, was im Tageslicht schläft, bekommt nachts große Augen. Die Musikerin vermochte es, diese Gesetzmäßigkeiten der nocturnalen Welt subtil herauszuarbeiten und spielte zudem die sogenannte „Mondflöte“ der Orgel an. Auch die „Toccata“ dieses Tonsetzers steht unter dem Zeichen des romantischen Abgrunds. Die Notenfolge gleicht einem wilden Reigen, der sich dem Übermut und der Tollheiten hingibt, nicht zu bremsen ist und eine ganz eigenwillige Dynamik entwickelt, die sich nicht scheut, Grenzen zu überschreiten.
Ein Stück für zwei Klaviere für die Orgel umgeschrieben.
Als scharfer Kontrast wurde das „Gebet (Ave Maria)“ von Franz Liszt (1811 bis 1886) angestimmt. Es ist gekennzeichnet von tiefer Religiosität. Das meditative Stück nimmt dem Gläubigen die Ichbezogenheit, sodass er über sich selbst hinauswachsen und andere Dimensionen erahnen kann.
Zum Abschluss des Orgelabends spielte Anna-Victoria Baltrusch den „Danse macabre“, ein Werk aus der Feder des noch jungen Liszt, ursprünglich für zwei Klaviere verfasst, hat sie dieses schwierige Werk für Orgel umgeschrieben und nützte die Möglichkeiten, die ihr die Fußpedale geben, meisterlich aus. Liszt griff die Melodie des gregorianischen Gesangs „Dies irae“ (Tage des Zorns beziehungsweise das Jüngste Gericht) auf und variierte sie. Das Stück selbst ist ein ungezügelter Tanz unsteter Wesenheiten, die nicht anders können, als das Chaos als Widerpart des Kosmos (göttliche Ordnung) auszuleben, denn sie sind gebunden und nicht frei. Es ist ein verwüstetes Land, in dem sie hausen, keine Heimat, sondern unheimlich, nicht geheuer und verflucht.
Anne-Victoria Baltrusch bot eine überragende Leistung, die das Publikum mit Begeisterung aufnahm. Ein grandioser Abschluss eines durch und durch beeindruckenden Konzerts.

© Alexander Becher
Eine „Kirchenmusikerin durch und durch“: Anna-Victoria Baltrusch begeisterte an der Orgel.