Politik-Festival in Stuttgart

„In den Sendern sitzen die falschen Leute“

Der großartige Schauspieler Thomas Thieme tritt beim Stuttgarter Spoken Arts Festival auf. Die dritte Ausgabe dieser Festspiele mit starker politischer Botschaft kommt gerade zur rechten Zeit. Umso größer ist Thiemes Ärger, dass der Festivalchef Joachim Lang gerade Prozesse mit dem SWR führen muss.

In Stuttgart zu Gast: der Schauspieler Thomas Thieme

© dpa/Candy Welz

In Stuttgart zu Gast: der Schauspieler Thomas Thieme

Von Roland Müller

Gleich zweimal ist Thomas Thieme beim Spoken Arts Festival zu erleben, bei der Eröffnung am 14. November in der Liederhalle und beim Finale am 19. November im Theaterhaus. Auch mit 76 Jahren ist er noch kein bisschen leise, dieser wuchtige, in Filmen noch immer präsente, mit Preisen überhäufte Körperspieler. Aber singen will der „genuine Kleinstädter“ beim Festival nicht. „Ich mach mich doch nicht zum Affen“, sagt Thieme, „schon gar nicht in Stuttgart. Die haben eine gute Oper, die kennen sich aus!“

Herr Thieme, was führt Sie zum Spoken Arts Festival?

Mit dem Festspielchef Joachim Lang bin ich seit langem intensiv verbunden. Ich habe ihm viel zu verdanken. Vor mehr als zehn Jahren, als ich in seiner Filmbiografie über Heinrich George mitspielte, regte er mich dazu an, ganze Theaterstücke allein zu spielen. Bei seinem Augsburger Brechtfestival habe ich danach „Baal“ und „Das Leben des Galilei“ als Ein-Mann-Stück gezeigt. Solche Abende, mittlerweile mehr als zwanzig, mache ich bis heute, musikalisch begleitet von meinem Sohn Arthur Thieme und inszeniert von Julia von Sell. Ohne den Impuls von Joachim Lang gäbe es diese Solokarriere nicht.

Was halten Sie davon, dass ihm der SWR jetzt kündigen will?

Mein Gott, wer versteht denn noch, was in den öffentlich-rechtlichen Sendern vor sich geht? Ich nicht. Da sitzen oft die falschen Leute auf dem falschen Stuhl, da haben übereifrige Redakteure das Sagen, die von der Materie wenig Ahnung haben. Joachim Lang hat für den Stuttgarter Sender so viele bei Kritik und Publikum erfolgreiche Projekte verantwortet . . .

. . . zuletzt als Regisseur „Führer und Verführer“ und „Cranko“ . . .

. . . dass ich seinen Rauswurf nicht nachvollziehen kann. Aber können Sie mir auch nur einen interessanten Namen nennen, den die Vorgänge in den Chefetagen der Sender nicht verwundern würde?

Was den Wohnort anlangt, scheinen Sie Beständigkeit zu lieben. Andere Schauspieler und Schauspielerinnen leben dort, wo große Theater und Filmstudios stehen, Berlin, Hamburg, München, Wien. Sie leben in Ihrem Geburtsort Weimar.

Ich kenne die Städte, die Sie nennen, gut. In Wien war ich unter Claus Peymann am Burgtheater engagiert . . .

Peymann gilt bei manchen als Regiedespot. Wie haben Sie ihn wahrgenommen?

Wir haben uns gut verstanden. Er ist ein Regisseur, der weiß, was er will, und damit bin ich zurechtgekommen. Ich konnte mein Spiel immer spielen.

Und wie ging’s nach Wien weiter?

Anfang der neunziger Jahre habe ich die Burg verlassen, aus freien Stücken, was nur wenige machen, aber definitiv nicht wegen Peymann. Nach dem Mauerfall wollte ich einfach wissen, was in Berlin los ist. Deshalb wechselte ich zur Schaubühne, wo ich von 1993 bis 1997 im Ensemble war. Aber mit Berlin bin ich nie warm geworden, die Stadt habe ich nur hingenommen. Heute weiß ich auch, weshalb: Ich bin genuin ein Kleinstädter, und Weimar ist als Wohnort genau das Richtige für mich. Da habe ich meine Wurzeln, man kennt sich, die Leute reden mit mir, und ich rede mit den Leuten. Eine Vertrautheit im Alltag, die mir gut tut.

Beim Spoken Arts Festival in Stuttgart treten Sie jetzt zweimal auf, bei der Eröffnung und beim Finale.

Die Eröffnung, an der auch Iris Berben, Kida Khodr Ramadan und Claudia Michelsen teilnehmen, steht unter dem von Brecht geliehenen Motto „Dass ein gutes Deutschland blühe“. Das gefällt mir sehr gut. Weniger gefallen hat mir die Vorstellung, dass ich an dem Abend auch singen sollte. Was man mir alles zutraut! Ich habe das aber dankend abgelehnt. Ich mach mich doch nicht zum Affen, dachte ich, schon gar nicht in Stuttgart. Die haben eine gute Oper, die kennen sich aus!

Und was machen Sie im Finale bei den „Reden zur Zeit“?

Den Abend bestreite ich zusammen mit Katia Fellin und der Rockband des Opernsängers Matthias Klink. Wir tragen unter anderem Hannah Arendt, Ingeborg Bachmann, Thomas Mann und Willy Brandt vor, dem ich noch immer für seine Ost- und Entspannungspolitik danke. Und – für mich eine einmalige und wunderbare Chance – auch die Mauer-Rede von John F. Kennedy, von dem der Titel des Abends stammt: „Ich bin ein Berliner“.

Welche Rolle spielte Kennedy in Ihrer DDR-Sozialisation?

Er war der Darling meiner Generation und sein „Ich bin ein Berliner“ der Hit! Ich könnte mir sogar vorstellen, dass er bei uns noch beliebter war als im Westen. Ihr hattet immerhin Brandt, wir aber hatten keine vergleichbare Figur mit Integrität und Charisma. Kennedy verkörperte alles, was wir nur insgeheim lieben durften: Rock’n‘Roll, Jeans, Western. Je mehr uns in der Schule eingetrichtert wurde, dass die Politiker im Westen alle Verbrecher sind, desto mehr faszinierte uns die USA.

In Filmen haben Sie zahllose Figuren der Zeitgeschichte gespielt, vom Reichskanzler Bismarck bis hin zu Bundeskanzler Helmut Kohl. Eine Aufwärmübung für die „Reden zur Zeit“?

Sich in diese Menschen zu versenken, hat meinen Horizont auf jeden Fall enorm erweitert. Im Doku-Drama „Uli Hoeneß – Der Patriarch“ spielte ich die Titelrolle; um mich darauf vorzubereiten, traf ich Hoeneß in München und redete zweieinhalb Stunden mit ihm. Danach habe ich besser verstanden, weshalb er gezockt und Steuern hinterzogen hat. Nur so konnte ich ihm als Schauspieler Gerechtigkeit widerfahren lassen, ohne mich von Äußerlichkeiten und Vorverurteilungen leiten zu lassen. Ich suche, ob vor der Kamera oder auf der Bühne, immer den Menschen hinter der öffentlichen Figur.

Das Gespräch führte Roland Müller.

Das Spoken Arts Festival 2024

Nachkriegszeit Die ersten beiden Festival-Ausgaben drehten sich um die Weimarer Republik und die NS-Diktatur, jetzt geht es um die Nachkriegszeit. Mit Musik, Tanz, Theater, Film, Lesungen werden die Aufarbeitung der Nazi-Verbrechen, die deutsche Teilung, das Wirtschaftswunder und die Wiederaufrüstung thematisiert. Das Festival findet vom 14. bis 19. November an verschiedenen Orten der Stadt statt.

Stars Die insgesamt neun Veranstaltungen stehen unter dem von Brecht geliehenen Motto „Daß ein gutes Deutschland blühe“. Abermals gastieren große Namen in der Stadt. Einen Höhepunkt verspricht bereits die Eröffnung am Donnerstag, 19 Uhr, im Mozartsaal der Liederhalle. Neben Thomas Thieme treten unter anderem Iris Berben, Claudia Michelsen, Hanna Plaß und Kida Khodr Ramadan auf.

Auschwitz-Prozess Zu den weiteren Höhepunkten zählen „Die Ermittlung“ von Peter Weiss, das legendäre „Oratorium“ zu den Auschwitz-Prozessen, aufgeführt von der Akademie für gesprochenes Wort unter Leitung von Timo Brunke, Samstag, 18 Uhr, Hotel Silber; die literarisch-musikalische Collage „Wundersame Wandlung“, unter anderem mit Albrecht Schuch, Mavie Hörbiger, Christian Brückner, Peter Kurth, Sonntag, 19 Uhr, Mozartsaal, sowie der Abschluss am Dienstag, 19.30 Uhr, Theaterhaus, mit „Ich bin ein Berliner – Reden der Zeit“ mit Thomas Thieme, Katia Fellin, Matthias Klink.

Tickets sind erhältlich unter www.spoken-arts-festival.de.

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Erstellt:
13. November 2024, 11:36 Uhr
Aktualisiert:
13. November 2024, 17:01 Uhr

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