Ist Putin gar nicht so gefährlich?
In Deutschland gibt es zwei völlig gegensätzliche Sichtweisen auf Putin. Man sollte sich von beiden lösen.
Von Tobias Heimbach
Berlin - Der Wunsch nach Frieden ist nie falsch. Gerade erst waren bei den traditionellen Ostermärschen wieder Tausende Menschen in Deutschland auf den Straßen, um dafür zu demonstrieren. Zugleich gibt es jeden Tag Bilder im Fernsehen von neuen Angriffen auf die Ukraine. Das macht vielen Menschen Angst. Sie sind auch befremdet, von den Themen, die derzeit viele Debatten bestimmen: Diskussionen über Aufrüstung, über die Wehrpflicht und über „Verteidigungsfähigkeit“. Über Krieg.
Doch gerade bei jenen, die am lautesten nach Frieden rufen, gibt es erstaunlich viel Nachsicht für den Mann, der Europa den Krieg zurückgebracht hat: Wladimir Putin. Das erklärt sich wohl auch durch eine eigenartige Doppelsicht, die viele Deutsche auf den russischen Präsidenten haben.
Zwei – übrigens vollkommen gegensätzliche – Sichtweisen sind dabei weit verbreitet. Nach der einen ist Putin ein missverstandener Politiker, dessen Land von der Nato eingekesselt wurde. So blieb ihm fast nichts anderes übrig, als die Ukraine zu überfallen. Er handelte quasi aus Notwehr. Weitere Eroberungspläne habe Putin aber nicht.
Doch Putin ist kein Opfer des Westens. Die Länder Osteuropas wollten nicht in die Nato, weil sie Russland angreifen wollten - sondern weil sie sich auch aus ihrer historischen Erfahrung heraus vor dem Kreml-Herrscher schützen wollten.
Die andere weit verbreitete Sicht auf Putin ist eine eher fatalistische: Wenn der russische Machthaber wirklich Eroberungsfantasien hat, dann nutzt es auch nichts, sich ihm in den Weg zu stellen. Schließlich kommandiert Putin das größte Arsenal an Atomwaffen weltweit. Prominenteste Vertreterin dieser Ansicht ist BSW-Chefin Sahra Wagenknecht. Nach dieser Ansicht kann er alles verlangen – weil er mit der ultimativen Zerstörung drohen kann.
Beide Ansichten führen zur selben vermeintlichen Lösung: nämlich nichts zu tun. Doch das ist ein falscher Schluss. Putin ist weder Opfer des Westens noch ein omnipotenter Weltenzerstörer. Selbstverständlich braucht es auch keine Verteufelungen. Es reicht ein pragmatischer Blick auf ihn.
Putin ist ein Aggressor – und Imperialist. Der 2022 begonnene Einmarsch ist nicht sein erster Krieg. Er und sein Umfeld sprechen davon, dass sie Russlands frühere Größe wiederherstellen wollen, sich gar in einer Auseinandersetzung mit dem „satanischen Westen“ befinden. Putin ist auch ein Kriegsverbrecher, der seine Streitkräfte mit Brutalität und ohne Rücksicht auf Zivilisten vorgehen lässt. Doch selbstmörderisch ist er nicht. Putin geht immer so weit, wie er kann. So weit man ihn lässt. 2014 nahm er sich die Krim und die Ostukraine.
In diesem Jahr will er sich nun einen weiteren Teil der Ukraine einverleiben. So zumindest ist der Friedensplan angelegt, den die USA und Russland aktuell verhandeln. Demnach scheint Putin zu bekommen, was er will: Eine Anerkennung seiner Eroberungen, die Ukraine bekommt nicht einmal Sicherheitsgarantien. Dahinter steckt die Idee, dass der 72-Jährige sich damit begnügen könnte. Dass er das tut, dachten viele schon 2014. Es kam anders. Und seitdem haben sich Putins imperialistische Ambitionen weiter verstärkt.
Dass Menschen in Deutschland in diesen Tagen Angst vor Krieg haben, ist verständlich. In vielen Familien ist die Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg bis heute präsent. Putin nutzt das aus und spielt damit, etwa wenn er mit Atombomben droht oder neue Raketen testet. Doch auch das darf einem nicht den Blick darauf verstellen, was für ein Mensch er ist: einer, der immer so weit geht, wie er kann. Aber auch einer, der eben so weit geht, wie man ihn lässt.