Wenn Krankheit die Liebe belastet
Nach Virus-Infekt: "Ich war eine Hülle, mehr als tot, aber weniger als lebendig“
Florian Schießl steckt im Sommer 2018 in einer frischen Beziehung. Dann wird er schwer krank. Seine Partnerin kümmert sich um ihn – aber die Beziehung gerät immer mehr in Schieflage.
Von Florian Gann
Der Sommer 2018 war einer, in dem die Sonne Überstunden machte, die Tage heiß und die Abende angenehm warm, fast wie beim Urlaub am Mittelmeer. Es war auch ein Sommer, wie gemacht für Eisessen in der Abendsonne und Drinks unterm Sternenhimmel; für kleine Dates, aus denen Männer und Frauen eine lange Liebesgeschichte spinnen. Auch Florian Schießl war damals in einer frischen Beziehung. Aber dann klappte sein Körper regelrecht zusammen.
Bald kann Florian Schießl nur noch im Bett liegen
Florian Schießl wohnt damals in München. Er ist 33, seine Freundin hat er gerade vor zwei Monaten kennengelernt. Sie wohnt in Frankfurt. Sie haben sich erst ein paar Mal an den Wochenenden gesehen, als sich Schießl zwei Mal hintereinander ein Virus einfängt. Schießl ist einer, der Vollzeit arbeitet, Sport macht, viel unterwegs ist. Plötzlich geht immer weniger. Auf immer weniger Anstrengung folgen immer längere Erholungsphasen. Bald kann Florian Schießl nur noch im Bett liegen.
Später wird Schießl erfahren: Die Virusinfektionen haben ME/CFS beim ihm ausgelöst, das Chronische Erschöpfungssyndrom. Auf mindestens 300 000 wurde die Zahl der Betroffenen in Deutschland zuletzt geschätzt, wahrscheinlich sind es mittlerweile einige mehr, denn auch das Coronavirus kann ME/CFS auslösen, es ist die wohl schlimmste Form von Long Covid. ME/CFS bedeutet: Man hat nur wenig Energie zur Verfügung, und während bei anderen Krankheiten Bewegungstherapien helfen, führt das beim Erschöpfungssyndrom zum vollständigen Kollaps, von dem man sich vielleicht nie mehr ganz erholt. Für Florian Schießl heißt das, dass manches nicht mehr funktioniert, was für ihn zu einer Beziehung gehört, etwa alles, was über Kuscheln hinausgeht.
Irgendwann sind sie nur noch Pflegerin und Gepflegter
„Erst war es schön“, erzählt Florian Schießl, heute 38 Jahre alt. „Man durfte sich fallen lassen. Die Liebe hat sich ausgedrückt in Rücksicht mir gegenüber, im Umsorgen“, sagt Schießl. Seine Freundin zieht zuerst zu ihm nach München. Ein wenig später, wegen der Ruhe, die er braucht und in der Großstadt nicht findet, ziehen beide ins Elternhaus in der Nähe von Regensburg. Aber ihre Rollen verschieben sich immer stärker, mehr Pflegerin und Gepflegter als Partnerin und Partner. „Ich habe bei ihr Charaktermerkmale eines Helfers getriggert, die sie ihre eigenen Bedürfnisse vernachlässigen ließen“, sagt Schießl. „Peu à peu ging es immer stärker da rein.“
„Fürsorglichkeit ist ein zweischneidiges Schwert“, meint Christina Graefe. „Kurzfristig eingesetzt, zum Beispiel bei einer vorübergehenden Erkältung, gilt sie mitunter als Liebesbeweis. In dem Moment aber, da Fürsorge zum wesentlichen Bestandteil des Beziehungsalltags wird, kann sie toxisch wirken“, so Graefe. Sie ist heute Sexualtherapeutin, Paarberaterin und Heilpraktikerin für Psychotherapie in Wiesbaden. Auch bei der 57-Jährigen hat eine Beeinträchtigung das Leben auf den Kopf gestellt.
Nach Abitur und Schauspielausbildung in Stuttgart war Graefe 20 Jahre lang Schauspielerin und Drehbuchautorin in Berlin. 2005 wurde bei ihr ein Tumor auf ihrer Zunge festgestellt. Sie ist heute geheilt, aber Ihre Aussprache hat sich verändert, man müsse sich wie in einen Dialekt einhören, so beschreibt sie es. Das Interview findet schriftlich statt. Der Tumor und seine Folgen haben dazu geführt, dass sie ihre Jobs aufgeben musste, ihre Beziehung auch. Sie kennt Fälle wie den von Florian Schießl, sie berät immer wieder Paare, in denen einer der Partner eine Behinderung hat.
Kein Sex, nur entkoffeinierter Kaffee
Florian Schießl verbringt in seiner schlimmsten Zeit etwa 15 Monate durchgehend im Bett, hat einen Behinderungsgrad von 80 Prozent, kann sich nur eine Stunde am Tag aktiv beschäftigen. Aber da muss auch anderes erledigt werden, aufs Klo gehen, waschen, diese Dinge. Der beste Moment des Tages ist immer ein entkoffeinierter Kaffee.
Schießl denkt sich lange, dass die Gefühle in der Beziehung ausreichen, um das alles überwinden zu können. Aber irgendwann ist da nur noch Pflege und keine Beziehung mehr, langsam schwindet die Verbindlichkeit. „Man sollte ihr einen Preis verleihen für das, was sie für mich getan hat“, sagt Schießl über seine damalige Partnerin. Aber die Beziehung wurde durch die Aufopferung nicht gerettet.
Fürsorglichkeit etabliere ein unausgewogenes Machtverhältnis in der Beziehung, schreibt die Therapeutin Graefe, „das kaum angreifbar ist, da es unter dem moralischen Vorzeichen der Aufopferungsbereitschaft steht und deshalb augenscheinlich nur mit Dankbarkeit beantwortet werden kann. Insbesondere die Erotik – die in ihrer besten Form ja von einem spielerischen Umgang mit gleichwertigen Kräften lebt – leidet häufig unter einem solchen Machtgefälle.“
Die Expertin sagt: Sexualität ist nicht nur Penetration
Hinzu komme eine sehr stereotype Vorstellung von Sexualität, die in unseren Köpfen vorherrsche, sagt Graefe. Diese sehe bestimmte Abläufe vor, die immer mit Penetration zu tun hätten und von einem oder mehreren Orgasmen begrenzt würden. Das mache es für viele Menschen mit starker körperlicher Einschränkung aber schon sehr schwierig mit gutem Sex. „Tatsächlich glaube ich, dass wir alle – mit oder ohne körperliche Einschränkungen – uns einen Gefallen damit täten, wenn wir die Sexualität aus diesem engen Korsett der Stereotype befreien und wieder kreativ werden ließen“, schreibt Graefe. Außerhalb der üblichen Pfade sei sehr viel Lust möglich.
Eine gesunde Sexualität wird aber häufig dadurch erschwert, dass sich mit einer Beeinträchtigung, die ins Leben kommt, oft auch das Selbstbild ändert. Florian Schießl sah das bei sich selbst so: Einerseits dreht sich alles um ihn, andererseits kann er nichts geben. Keine Abenteuer, keine Sexualität, sogar länger aufmerksam zuzuhören bringt ihn an seine Grenzen. Jeder Ton, jeder Lichtstrahl lässt seinen ohnehin schwachen Akku schneller leer werden. „Die ganze Person verblasst. Ich war eine Hülle, die mehr ist als tot, aber weniger als lebendig“, sagt Schießl.
Irgendwann fängt Florian Schießl wieder zu daten an
Die Trennung von seiner damaligen Partnerin machte es nicht besser. „Es war so, als hätte nicht nur eine Frau, sondern gleich das ganze Konzept einer romantischen, sexuellen Partnerschaft mit mir schlussgemacht“, sagt Florian Schießl.
Aber dann, nach all den Monaten als Pflegefall, verbessert eine Therapie seinen Zustand. Das bringt ihn vom Bett wieder auf die eigenen Beine, anfangs nur kurz, dann immer länger. Und statt um Therapien kann er sich um Tinder kümmern, die Dating-App. Bald lernt er eine Frau kennen, schlank, blonde lange Haare. Als sie sich das erste Mal treffen, schafft er nur zwei Runden um einen kleinen Weiher. Mittlerweile fährt er wieder E-Bike, er ist vom Chronischen Erschöpfungssyndrom fast vollständig geheilt – und die Beiden sind ein glückliches Paar.