Gewalt in Italien
Neapels minderjährige Mörder – Verstörend und kaltblütig
Seit Monaten machen in Neapel Jugendliche und junge Männer Schlagzeilen, die Ihresgleichen töten – aus nichtigen Motiven. Die Regierung von Giorgia Meloni hat die Jugendstrafen massiv verschärft, aber das beeindruckt niemand und löst nicht das Problem.
Von Dominik Straub
Der 19-jährige Santo Romano war das, was man in Italien einen „ragazzo per bene“ nennt, ein wohlerzogener, freundlicher Junge, außerdem eine Nachwuchshoffnung als Fußballtorhüter. Sein kurzes Leben endete am 1. November in einem Vorort von Neapel: Santo wollte einen Streit zwischen seinem Kumpel und einem anderen Jugendlichen schlichten. Die beiden waren sich in die Haare geraten, weil Santos Freund dem anderen aus Versehen auf einen Turnschuh getreten war, der dabei schmutzig wurde. Als Santo eingriff und den Unbekannten aufforderte, es mal gut sein zu lassen, zog dieser eine Pistole und knallte den 19-jährigen kaltblütig ab. Danach begab sich der 17-jährige Täter in eine Bar im Ausgehviertel Chiaia von Neapel, um sich mit Kollegen zu treffen, als wäre nichts geschehen.
Der minderjährige, psychisch labile Täter, der erst vor kurzem aus dem Jugendgefängnis entlassen worden war, hatte die Pistole nach eigenen Angaben in Neapels Außenquartier Scampia erstanden, einem berüchtigten Drogenumschlagplatz der Camorra, der lokalen Mafia. Er selber war nach ersten Erkenntnissen der Carabinieri nicht Mitglied eines Clans. Nicht selten erfolgen die Bluttaten unter den Minderjährigen Neapels im Camorra-Milieu. Am 24. Oktober, also nur eine Woche vor dem Tod von Santo Romano, starb der 15-jährige Emanuele Tufano bei einer Schießerei unter rivalisierenden mafiösen Jugendbanden im Mercato-Quartier unweit von Neapels Hauptbahnhof durch eine Kugel in den Rücken. Der mutmaßliche Schütze ist ebenfalls minderjährig.
Ein besonders verstörender Mord unter Jugendlichen ereignete sich am 31. August: In einem Vorort Neapels erschoss ein 16-Jähriger seinen langjährigen Freund, den 20-jährigen Gennaro Ramondino. Anschließend wurde der Tote auf einem Feld verbrannt. Anlass für die Bluttat waren Drogengeschäfte gewesen, die das Opfer im Alleingang getätigt haben soll. Er habe Gennaro nicht töten wollen, versicherte der jugendliche Täter. „Die Großen haben mir befohlen, es zu tun.“ Mit den „Großen“ waren die erwachsenen Clan-Mitglieder gemeint. Die Ermittler glauben, dass es sich um eine Art Initiationsritual gehandelt haben könnte, mit welchem der „Baby-Mafioso“ beweisen sollte, ein echter „Camorrista“ zu sein.
Das Phänomen der schweren Gewaltkriminalität unter Jugendlichen ist in Neapel nicht neu: Allein im Jahr 2023 sind in der Region Kampanien und ihrer Hauptstadt Neapel 14 Mordversuche und 5 vollendete Morde unter Minderjährigen verzeichnet worden. Hinzu kamen 18 bewaffnete Raubüberfälle, 11 Vergewaltigungen (bei hoher Dunkelziffer), und zwei Dutzend Fälle von unerlaubtem Waffenbesitz. Die jüngste Häufung der Morde - drei Tote in etwas mehr als zwei Monaten - hat nicht nur in Neapel, sondern in ganz Italien große Betroffenheit ausgelöst. Die Abdankungsrede für den 15-jährigen Emanuele Tufano hat kein Geringerer als der Erzbischof von Neapel und künftige Kardinal Domenico Battaglia gehalten. Er richtete einen Appell an die Erwachsenen und an die Politik: „Wir dürfen unsere heranwachsenden Kinder nicht mehr sich selbst überlassen, ohne Aussicht auf Alternativen. Neapel muss ,Basta’ sagen zur Resignation, es darf sich nicht vom Dunklen ersticken lassen.“
Eltern in Haft bei Schuleschwänzen ihrer Kinder
Doch die Appelle fruchten nicht. Erst am vergangenen Samstag starb wieder ein junger Mann, diesmal 18 Jahre alt. Beim Hantieren mit einer Pistole löste sich ein tödlicher Schuss. Ein Freund des Opfers soll mit der Waffe herumgespielt haben.
Die Rechtsregierung von Giorgia Meloni hatte schon vor einem Jahr auf die Eskalation der Jugendgewalt in Neapel reagiert und das sogenannte Caivano-Dekret erlassen, benannt nach einem weiteren Problem-Vorort der Metropole am Fuß des Vesuvs. Dort waren im Sommer 2022 zwei 10- und 12-jährige Cousinen von sieben Jugendlichen brutal vergewaltigt worden. Das Dekret sieht neben Prävention eine zum Teil drastische Verschärfung der Jugendstrafen vor, auch für vergleichsweise harmlose Delikte wie den Handel mit geringfügigen Mengen von weichen Drogen. In die Pflicht genommen werden auch die Eltern der jungen Straftäter, denen die Erziehungsberechtigung entzogen werden kann. Im Falle eines notorischen Fernbleibens ihrer Kinder von der Schule können die Eltern sogar mit bis zu zwei Jahren Gefängnis bestraft werden.
Das Dekret war von Experten von Anfang an als wirkungslos, wenn nicht sogar als kontraproduktiv kritisiert worden. In der Tat ist nicht einzusehen, warum Jugendliche plötzlich wieder zur Schule gehen sollten, wenn man ihre Eltern einsperrt. Die Jugendkriminalität hat seit dem Inkrafttreten der Verschärfungen im Dezember denn auch nicht abgenommen. „Das Caivano-Dekret ist ein Desaster, dessen einziger Effekt darin besteht, dass die Jugendgefängnisse noch überfüllter sind als vorher“, betont der Autor und Mafia-Experte Roberto Saviano (“Gomorrha“). Nach der medienwirksamen Ankündigung des Dekrets durch die Regierung habe sich der Staat aus Caivano wieder verabschiedet. „Und so kommandiert dort die Camorra wie eh und je“, betont Saviano, der selber aus Neapel stammt.
„Gegen Jugendgewalt braucht es Nulltoleranz, aber Strafverschärfungen alleine lösen das Problem nicht“, sagt die Jugend-Staatsanwältin von Neapel, Maria de Luzenberger. Sie schlägt schon lange Alarm und weist darauf hin, dass es viel zu einfach sei, Waffen zu besorgen, Schusswaffen eingeschlossen. In einigen Quartieren Neapels existiere eine „tief verwurzelte Kultur der Gewalt“, die eine ganze Generation von Jugendlichen präge. „Wir sprechen hier von Minderjährigen, die fast immer bewaffnet sind, wenn sie ausgehen - und wer mit einem Messer oder einer Pistole in der Tasche das Haus verlässt, neigt dazu, diese bei Bedarf auch einzusetzen.“ Und so komme es zu Gewalttaten, oft wegen eines banalen Streits oder eines Blicks zu viel auf ein Mädchen.
Seit der Pandemie stelle man unter Jugendlichen Unsicherheit und Zukunftsangst fest, die sich in psychischen Störungen und Aggressivität gegen sich selber und gegen außen äußere - und das nicht nur in Neapel, sondern europaweit, betont Maria de Luzenberger. Die Jugend-Staatsanwältin fordert, dass der Staat viel mehr in Jugendarbeit, in Erziehung, Begleitung und Aufsicht investieren müsste, um der Kultur der Gewalt zu begegnen - nicht zuletzt auch in den Jugendstrafanstalten. Dort seien Prävention und Reintegration noch schwieriger geworden, seit diese Gefängnisse überfüllt seien.