Missbrauch in der Kirche
Neue Doku zeichnet den Skandal in der Korntaler Brüdergemeinde nach
Der Missbrauchsskandal im Kinderheim der pietistischen Brüdergemeinde im Landkreis Ludwigsburg hat hohe Wellen geschlagen. Julia Charakter arbeitet das Geschehen nun in einer erschütternden Doku auf.
Von Kathrin Horster
Milde lächelt Jesus von der Fassade der Korntaler Jugendhilfe und hält seine Arme schützend über eine Gruppe von Kindern. Neben dem schlichten Relief prangt der Bibel-Vers „Kommet her zu mir alle!“, ein Versprechen an jene, die, wie es im Spruch weiter heißt, „mühselig und beladen“ sind. Populär in christlichen Gemeinschaften ist auch der in den Evangelien formulierte Schutzanspruch „Lasset die Kindlein zu mir kommen“. Nur den Satz „Er herzte sie und legte die Hände auf sie und segnete sie“ haben die 81 identifizierten Täter und Täterinnen im Zusammenhang mit einem ungeheuren Missbrauchsskandal im Kinderheim der pietistischen Korntaler Brüdergemeinde offenbar allzu wörtlich genommen.
Ab den 1950er Jahren fand dort ein systemischer, über Dekaden fortlaufender Missbrauch an mehreren hundert Kindern und Jugendlichen statt. Die Taten reichten von schwerer Zwangsarbeit über körperliche Züchtigungen bis hin zu Vergewaltigungen und psychischer Gewalt. Die jüngsten Fälle datieren bis in die 2000er Jahre. 2014 wurde der Skandal erstmals publik, durch die Schilderungen des Betroffenen Detlev Zander, der aufgrund der in seiner Jugend erlittenen Qualen an Selbstmord dachte, dann aber das Schweigen brach.
Auch Angehörige kommen zu Wort
Ihm schlossen sich 150 weitere ehemalige Heimzöglinge an. Sechs von ihnen kommen nun in Julia Charakters erschütternder Dokumentation „Die Kinder aus Korntal“ zu Wort, die exemplarische Taten und den umstrittenen Aufarbeitungsversuch durch Dr. Brigitte Baums-Stammberger und Prof. Dr. Benno Hafeneger darstellt. Außer den sechs Betroffenen sprechen auch Angehörige der Brüdergemeinde vor Charakters Kamera; ein weltlicher Vorstand und ein älteres Ehepaar sowie Baums-Stammberger als Aufklärerin. Charakters Film ist auch deshalb so niederschmetternd, weil er die mangelnde Empathie, das Zögern und Mauern sowohl der Gläubigen als auch der Vertreter der Brüdergemeinde dokumentiert, den Missbrauch ohne Wenn und Aber anzuerkennen und halbwegs angemessen zu entschädigen.
Als die evangelische Gemeinschaft nach dem Krieg das Heim für elternlose Kinder und sogenannte Sozialwaisen eröffnet, habe die Einrichtung jedoch einen fast paradiesischen Eindruck erweckt, berichtet Detlev Zander. Es gibt grüne Wiesen und Reit-Therapie, zwischenzeitlich hätten „mehr Pferde als Kinder“ aus den Fenstern geschaut, beschreibt Zander gallig die auf Hochglanz polierte Außenwirkung.
Unerträgliche Schilderungen von grausamen Erlebnissen
Dagegen stehen die grausamen Missbrauchserlebnisse, die im Falle Zanders mit dem vierten Lebensjahr einsetzen und bis in dessen Pubertät reichen. Die Betroffenen beschreiben konkrete Taten, von einer Schwester etwa, die einem Kind nach einer analen Vergewaltigung Watte in den Po steckte. Kinder, die sich abends nach dem Löschen des Lichts noch in ihren Betten unterhielten, wurden von ihr zur Strafe in einen Wäschekorb im Keller gesteckt, wo sie vom Hausmeister aufgegriffen und vergewaltigt wurden. Zander und die anderen Betroffenen berichten von Schlägen mit Schuhen und Gürteln, von Vergewaltigungen durch sogenannte Paten, in deren Obhut man einige der Kinder am Wochenende gegeben hatte.
In einem alten Fernsehbeitrag preist der damalige Heimleiter solche Patenschaften unerträglich scheinheilig als wichtige soziale Erfahrung. Die Erlebnisse der inzwischen erwachsenen Betroffenen zur Zeit ihrer Heimeinweisung illustriert der Graphiker Mick Mahler in einfachen, schwarz-weißen Zeichentrick-Sequenzen, die von Angst, Trostlosigkeit und Einsamkeit erzählen. Detlev Zander beschreibt etwa eine psychische Foltersituation, in deren Verlauf eine Schwester seinen Teddybären im Ofen verbrannte, Mahler zeichnet die Szene sensibel und in symbolisch reduzierten Bildern nach.
Allumfassende Hoffnungslosigkeit in den Häusern der Brüdergemeinde
Die Gegenüberstellung von mündlichem Zeugnis und visuellen Flashbacks macht ansatzweise das Klima allumfassender Hoffnungslosigkeit in den Häusern der Brüdergemeinde nachvollziehbar. Julia Charakter blickt aber nicht nur aus der Opferperspektive auf das Grauen, sondern gibt auch heutigen Repräsentanten der Glaubensgemeinschaft Gelegenheit, Stellung zu beziehen. Die gestehen zwar unterm zunehmenden öffentlichen Druck das Fehlverhalten Einzelner ein, wollen aber das Systemische und vor allem auch religiös Begründete der Gewalt innerhalb ihrer Institution nicht anerkennen. Erstaunlich bereitwillig geben die religiösen Vertreter ihre Ansichten zum besten.
Sprach- und fassungslos machen auch die eiskalten Äußerungen jenes älteren Ehepaars, das die Verwendung seiner Kirchenbeiträge für die Entschädigung der Opfer ablehnt. Die sollten endlich Ruhe geben, lautet deren Tenor. Dass die Dokumentaristin aber auch solche authentischen, sich selbst entlarvenden Gegenstimmen vorweisen kann, grenzt an ein Wunder und belegt deren Einfühlungsvermögen.
Doku schildert den Skandal aus mehreren Perspektiven
Die Befragten hätten immerhin das Recht in Anspruch nehmen können, ihre gefilmten Aussagen zurückzuziehen. Durch Charakters Fähigkeit, Stellvertreter der Täter-Partei und kritische Dritte in den dokumentarischen Prozess einzubinden, kommt ein umfassendes, mehrperspektivisches Bild der sozialen Folgen systemischer Missbrauchspraxis zustande. Im Fall von Korntal beschäftigen diese Folgen nicht nur den direkten Täter-Opfer-Kreis lebenslang, sie zwingen eine ganze Stadt dazu, Farbe zu bekennen. Über die Schilderung eines regionalen Missbrauchsskandals hinaus liefert Julia Charakter eine allgemein gültige Blaupause sozialer Verdrängungsstrategien. Es bleibt zu hoffen, dass nicht nur die Korntaler Brüdergemeinde aus diesem Film Lehren zieht.
Die Kinder aus Korntal. Dokumentation. Regie: Julia Charakter. Ab diesem Donnerstag im Kino. 91 Minuten. Ab 12 Jahren.
Regie Julia Charakter wurde 1984 in der Ukraine geboren, wuchs im nordrhein-westfälischen Dorsten auf. Nach dem Abitur arbeitete sie für Tageszeitungen, ehe sie Literatur- und Medienwissenschaften studierte. 2018 wurde sie mit ihrer Kurz-Doku „Unbarmherzig“ nach Cannes eingeladen. „Die Kinder aus Korntal“ ist ihr Doku-Langfilm-Debüt, bei der Dok Leipzig wurde ihr dafür der Defa-Förderpreis verliehen. Sie lebt in Köln.
Gemeinde Die Korntaler Brüdergemeinde besteht seit 1819. Sie unterhält bis heute mehrere diakonische Betriebe und beschäftigt rund 600 Mitarbeiter.