Plädoyer für einen unbeliebten Affekt
Schämt euch!
Wenn wir uns alle mehr schämen würden, wäre die Welt vielleicht in einem weniger beschämenden Zustand.

© AFP/SAUL LOEB
Systematische Demütigung: Donald Trumps Verhalten gegenüber Wolodymyr Selenskyj bot reichlich Anlass zur Fremdscham.
Von Aglaia Kister
Scham zieht sich als roter Faden durch die Gegenwartskultur. Wer weite Fernreisen unternimmt, ist mit Flugscham konfrontiert. Wer sich nicht in ein Flugzeug traut, schämt sich für die eigene Aviophobie. Wer aus Verhältnissen stammt, in denen das Geld nie für eine Flugreise gereicht hat und in denen „Aviophobie“ das unverständliche Fremdwort einer abgehobenen Elite war, empfindet vielleicht Herkunftsscham. Wer keinen Grund für Herkunftsscham besitzt, hat vermutlich Anlass zur Privilegienscham. Krankheitsscham, White Shame, Körperscham, Queer Shame, Plastikscham, Fleischscham, Zuckerscham, Konsumscham, Altersscham und viele weitere Abkömmlinge des Affekts bestimmen zeitgenössische gesellschaftliche Debatten. Als kraftvoller Katalysator der Schamdynamiken wirkt das Internet, das es erlaubt, im Schutzmantel der Anonymität einzelne Personen an den Pranger der sozialen Medien zu stellen.
Diese Omnipräsenz des Affekts hat den Philosophen Robert Pfaller bereits zu der kritischen These bewogen, Scham stelle heutzutage ein „Distinktionsgut“ dar, das eifrig präsentiert werde, um die eigene Tugendhaftigkeit unter Beweis zu stellen: „Man ist stolz, dass man so viel Schamgefühl, so viel Sensibilität, Achtsamkeit und Sinn für das Peinliche besitzt; und darum trägt man seine Scham nun auch ähnlich selbstbewusst zur Schau wie früher eine exklusive Armbanduhr oder eine teure Handtasche.“
Demonstration der Tugend
Wenngleich das Phänomen des Virtue Signaling – einer bewussten Demonstration der eigenen Tugendhaftigkeit – vermutlich existiert, erscheint es angesichts der massenhaften Verbreitung der Scham fraglich, ob diese tatsächlich einen Luxusartikel darstellt, den sich nur die Reichen leisten können. Vielmehr bieten die allerorts sprudelnden Schamquellen heute für jedes Alter, jedes Geschlecht und jede Klasse einen passenden Anlass zu erröten. Und wer im eigenen Verhalten durchaus keinen Grund zur Scham finden kann, hat immer noch die Möglichkeit der Fremdscham.
Anlass für intensivste Fremdscham bot zuletzt das seinerseits gänzlich schamlose Verhalten des US-Präsidenten Donald Trump gegenüber Wolodymyr Selenskyj. Vor laufender Kamera wurde der ukrainische Präsident systematisch gedemütigt und beschämt. Angefangen bei Trumps spöttischer Bemerkung, sein Besucher habe sich für das Treffen richtig „herausgeputzt“, über den Vorwurf, Selenskyj spiele leichtfertig mit „dem Leben von Millionen Menschen“ und dem „Dritten Weltkrieg“, während der russische Präsident Wladimir Putin eine schlimme „Hexenjagd“ durchgemacht habe, bis hin zu den erniedrigenden Aufforderungen, mehr Dankbarkeit zu zeigen, erwies sich das Treffen für den ukrainischen Präsidenten als regelrechter Walk of Shame.
Wie am mittelalterlichen Pranger Menschen vor Schaulustigen gedemütigt wurden, so inszenierte Trump ein live an die Weltöffentlichkeit übertragenes Beschämungsspektakel, das er mit den zufriedenen Worten beendete: „Das wird großartiges Fernsehen geben.“ Der demokratische Senator Brian Schatz kommentierte das Schauspiel auf X mit den Worten: „Shame. Shame. Shame.“ Damit brachte er einen Affekt zum Ausdruck, der im Seelenhaushalt des US-Präsidenten auf irritierende Weise zu fehlen scheint. Wo andere Menschen tief erröten würden – etwa wenn man sie bei dreistesten Lügen ertappt –, leuchten Trumps Wangen weiter in fröhlich-ungeniertem Orange.
Diese Schamlosigkeit wurde verschiedentlich als Kernelement des Trumpismus und als ein Grund für dessen Faszinationskraft beschrieben. So hat etwa die Soziologin Arlie Russell Hochschild ein vierstufiges „Anti-Scham-Ritual“ herausgearbeitet, das Trump seit Jahren stets aufs Neue vor seinen Anhängern aufführe. Den Beginn bilde dabei immer eine provokante Äußerung, die gegen jegliche Regeln des Anstands verstoße – etwa die Behauptung, dass haitianische Immigranten bevorzugt die Haustiere ihrer einheimischen Mitbürger stehlen und verspeisen. In einer zweiten Phase des Rituals bekunde die demokratische Öffentlichkeit bestürzt ihre Distanz zu Trump und beschäme ihn damit. Nun bestehe die dritte Stufe des Rituals darin, dass der Aggressor selbst sich als märtyrerhaftes Opfer der Demütigung inszeniere: als unschuldiges Objekt einer Hexenjagd, wie sie sein schwer geprüfter Leidensgenosse Putin ebenfalls habe erdulden müssen und wie sie – so Trumps warnender Appell – auch seine Anhänger jederzeit treffen könne, wenn dem woken Wahn kein Einhalt geboten werde. In der vierten Phase schließlich gehe Trump zum Angriff über und vollführe einen Rachefeldzug gegen die vermeintlich feindselig-korrupten Medien und Bildungseliten.
Mit dem skizzierten Ritual zeigt Trump stets von Neuem, wie sich Demütigung und Beschämung in ein triumphales Gefühl der Größe und in einen kraftvollen Racheakt umwenden lassen. Dieses Schauspiel wirkt auf seine Anhänger nun vielleicht deshalb derart kathartisch, befreiend und anziehend, weil es sich bei ihnen – so ein Ergebnis von Russells jahrelangen Feldstudien – vielfach um Personen handelt, die selbst unter dem Gefühl leiden, in ihrem Stolz verletzt, gedemütigt und beschämt worden zu sein. Trumps Stammwähler – weiße Arbeiter mit niedrigem Bildungsabschluss – befinden sich Russell zufolge oftmals in einem äußerst schamträchtigen inneren Konflikt: Einerseits sind sie in dem Glauben erzogen worden, dass sich der amerikanische Traum für jede Person erfülle, wenn sie nur hart genug arbeite. Andererseits bewohnen sie oftmals wirtschaftlich abgehängte Regionen, in denen ein noch so großer Leistungswille nicht davor bewahrt, aufgrund struktureller Bedingungen in Arbeitslosigkeit, Armut und Drogensucht abzugleiten.
Nach dem Sündenfall
Das Gefühl, von der Gesellschaft ausgeschlossen zu sein und auch noch selbst daran die Schuld zu tragen, schürt bei den Betroffenen eine existenzielle Scham. In dieser Situation kann ein Mann wie Trump, der jeglicher Scham den Kampf ansagt und an dem Demütigungen scheinbar wirkungslos abperlen, leicht zu einer leidenschaftlich umworbenen Sehnsuchtsfigur werden.
Man muss freilich kein gekränkter Hinterwäldler, kein Hillbilly, sein, um den Wunsch zu empfinden, sich von der Scham zu befreien. Wenig andere Affekte sind derart schmerzhaft und schwer erträglich wie eine intensiv empfundene Scham. Interessanterweise wird das Paradies in der Bibel nicht primär als Welt ohne Wut, ohne Angst oder ohne Trauer beschrieben, sondern als Welt ohne Scham. Während Adam und Eva vor dem Sündenfall nackt und zufrieden im Garten Eden hausen, verspüren sie nach dem Kosten vom Baum der Erkenntnis das schamhafte Bedürfnis, ihre Geschlechtsteile mit Feigenblättern zu bedecken.
Bereits etymologisch leitet sich die Scham vom indogermanischen „skam“ – verbergen – ab und auch auf psychodynamischer Ebene besitzt der Affekt eine ausgeprägte Tendenz zur Maskierung. So hat der Psychoanalytiker Léon Wurmser aufgezeigt, dass Scham selten in offen-unverhüllter Form zutage tritt, sondern sich zumeist hinter anderen Deckaffekten verbirgt: Gehemmtheit, Zurückhaltung, aber auch Arroganz oder Spottsucht können schützende Fassaden sein, die einen abgewehrten Schamkonflikt verbergen. Kraftvolle, nach Selbstbehauptung drängende Affekte wie Zorn und Hass sind oftmals leichter erträglich als Scham, die immer auch ein Eingeständnis der eigenen Schwäche, Vulnerabilität und Fehlbarkeit bedeutet.
Verschiedene literaturwissenschaftliche Studien haben in den vergangenen Jahren herausgearbeitet, dass die Scham in ihrer Neigung zu Maskierung und Verhüllung auch eine eminente ästhetische Kraft birgt. Wie sie dazu treibt, den Körper in Textilien zu hüllen, so bilden Schamerfahrungen oftmals den narrativen Kern, um den sich das literarische Textgewebe legt. Seit der Antike entfalten Schamkonflikte in zahlreichen Dramen und Romanen eine handlungsantreibende Kraft. Als besonders schamaffin wurde immer wieder das Genre der Autobiografie charakterisiert – zumeist wirft die schonungslose Durchleuchtung des eigenen Lebens einen Schatten der Scham. Die gefeierte Autofiktion der französischen Nobelpreisträgerin Annie Ernaux trägt denn auch schlicht den Titel La Honte („Die Scham“).
Der Affekt besitzt jedoch nicht nur eine ästhetische, sondern auch eine ethische Dimension. Bereits Platon beschreibt die Scham – aidos – in seinem Dialog Protagoras als ein Gottesgeschenk, das Zeus den Menschen überbringen lässt, um ihr Zusammenleben im Staat zu schützen. Aidos ist bei ihm eine Haltung der Ehrfurcht, die vor gewaltsamen Übergriffen auf andere zurückscheut und so ein friedliches Miteinander ermöglicht. Dieses platonische Ideal greift nach den Gewaltexzessen des Zweiten Weltkriegs auch der Frankfurter Philosoph Theodor W. Adorno wieder auf: Für ihn soll die „Erziehung zur Mündigkeit“ darauf abzielen, „Scham zu wecken, sodass kein Mensch mehr Rohheiten von anderen mitansehen kann“. Die aktuelle Weltpolitik imponiert nicht gerade durch Scham vor Rohheiten – vielmehr überbieten sich die populistischen Politiker verschiedener Länder in schamlosen Lügen und Gewalt. Ein bisschen mehr aidos könnte vermutlich viel Leiden verhindern.
Scham bedeutet immer auch eine Verabschiedung narzisstischer Omnipotenzfantasien und das Eingeständnis, wie fragil, vulnerabel und schutzbedürftig ein Menschenleben ist. Wo Scham auf der Würde des Einzelnen insistiert und gegen deren Verletzung Einspruch erhebt, ist sie nicht länger eine Erfahrung der Ohnmacht, Passivität und Schwäche, sondern gewinnt eine widerständige, ethische Kraft. Wer also das nächste Mal vor Scham im Boden zu versinken glaubt, kann sich immerhin damit trösten, unter einem poetisch wie politisch gleichermaßen produktiven Affekt zu leiden.
Info
Affektforschung Aglaia Kister, geboren 1994 in Tübingen, lehrt als Postdoc an der Universität Bern Literaturwissenschaft. Sie forscht im Bereich Literatur und Emotionen. Zuletzt erschien ihre Monografie „Fragile Balance. Schwindelerfahrungen und Gleichgewichtsideale im Werk Thomas Manns.“ Ihre Studie „Aus dem Selben und Gleichen das immer Neue“ wurde mit dem Thomas Mann-Förderpreis ausgezeichnet.