Spielball der Mächte

Der Historiker Ortwin Köhler entwirft in seinem Online-Vortrag bei der Volkshochschule Murrhardt ein facettenreiches historisches Panorama zur Geschichte Polens vom Mittelalter bis zum Ende des 19. Jahrhunderts.

Von Elisabeth Klaper

MURRHARDT. Die historischen Zusammenhänge zwischen Polen und Europa und die Gründe und Hintergründe für die Auswanderung vieler Polen im 19. Jahrhundert sind vielfältig. Dies zeigte Historiker Ortwin Köhler in seinem Online-Vortrag der Volkshochschule Murrhardt mit 15 Zuhörern auf. In seiner über 1000 Jahre umfassenden, detaillierten historisch-geografischen Darstellung verdeutlichte er, dass die Bevölkerung, eine Mischung aus Volksgruppen verschiedener Herkunft, viel zu leiden hatte in zahlreichen Kriegen zwischen benachbarten (Groß-)Mächten.

Im Mittelalter begründeten die schwedisch-norwegischen Waräger (Eidgenossen), die im Ostseeraum Handel betrieben, Siedlungen und eine Herrschaft. Die den Wikingern ähnlichen Seefahrer zogen vom 8. bis 11. Jahrhundert per Schiff von der Ostsee durchs heutige Polen über die Flüsse Weichsel, San und Dnjestr zum Schwarzen Meer. Dabei vermischte sich die Kultur der Skandinavier mit slawischen und nomadischen Volksgruppen, wie Ortwin Köhler anhand von Kleidung, Waffen und Rüstung illustrierte. Die Waräger hatten Beziehungen zu Byzanz und zur Herrschaft des Großfürsten Wladimir I. von Kiew, der Keimzelle Russlands. Das Wort kommt von „Rus“ für die Nachkommen der Waräger und der einheimischen Bevölkerung.

Bis um 1000 war der Raum Polens nur gering besiedelt, dann zogen verschiedene slawische Gruppen in diese Region. Im hohen Mittelalter kam es durch Eroberungen zu ersten Kontakten zwischen Deutsch-Europäern und noch heidnischen Polen-Slawen, seitdem bezeichnete „Mark“ meist ein Grenzgebiet zu Slawen.

Im 13. Jahrhundert verheerten Raubzüge von Mongolen, Türken, Tataren und anderen Steppenvölkern den polnisch-baltisch-russischen Raum. Alexander Newski, Herrscher von Nowgorod, Kiew und Wladimir, war den Mongolen tributpflichtig und wehrte erfolgreich Gebietsansprüche des Deutschordens und Schwedens ab. Vom 14. bis 16. Jahrhundert bestand ein Königreich von Polen und Litauen, das Mitglieder des Adelsgeschlechts der Jagiellonen in Personalunion beherrschten. Als diese im Mannesstamm ausgestorben waren, erfolgte 1569 die Gründung der Adelsrepublik Polen mit einem Wahlkönigtum, die sich laut Ortwin Köhler zu einem stabilen, starken Staat entwickelte.

Zwar waren Polen und ein Großteil des Baltikums während der Nordischen Kriege von der Mitte des 16. bis Anfang des 18. Jahrhunderts Dauerkriegsschauplatz, doch im Großen Nordischer Krieg von 1700 bis 1721 war Polen mit Russland gegen Schweden verbündet. Ein Problem waren die Kosaken, kleine nomadische Reitergruppen aus ehemaligen Flüchtlingen verschiedener Steppenvölker. Sie überfielen Dörfer und Militärstützpunkte, erkundeten und eroberten aber auch neues Land meist im Dienste Russlands. Verschiedene Gruppen wie die Saporogher in der Ukraine, die Don- und andere Kosaken am Schwarzen und Kaspischen Meer, im Kaukasus und Ural waren Wehrbauern und stellten Regimenter mit leichter Reiterei im russischen Heer zwischen 1570 und 1920. Das Pendant im Heer Polens und Litauens waren die Husaren, gepanzerte Reiterei mit Lanzen und diversen anderen Waffen. Sie kämpften erfolgreich bis zur Verbreitung effektiver Schusswaffen und trugen in der Schlacht am Kahlenberg 1683 entscheidend dazu bei, die türkische Belagerung Wiens zu beenden. Im späten 18. Jahrhundert kam es zu drei Teilungen Polens: 1772 besetzten Russland, die Habsburgermonarchie und Preußen große Teile des Landes. 1793 erlitt Polen erhebliche Gebietsverluste an Russland und Preußen, und 1795 verschwand Polen durch Annexionen Russlands, Preußens und der Habsburgermonarchie ganz von der Landkarte.

Dagegen erhoben sich die Polen im Aufstand, benannt nach Tadeusz Kósciuszko, der neben George Washington im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg gekämpft hatte. In den Napoleonischen Kriegen Anfang des 19. Jahrhunderts hofften die Polen auf ihre Befreiung durch Napoleon, in dessen Armee eine polnische Legion kämpfte, doch blieb dies ein Traum. Nach dem Wiener Kongress 1815 bildete man das kleine „Kongresspolen“ um das Herzogtum Warschau, das der Zar als König in Personalunion mit Russland bis zum Aufstand 1830 regierte, und 1831 erklärte Polen die Absetzung des Zaren und der Dynastie Romanow.

Bereits die Teilungen, vor allem aber die Niederschlagung des Aufstands 1831/32 lösten eine große Emigrationswelle nach Westeuropa aus, betonte der Referent. Polen, die sich vor russischer Herrschaft fürchteten, flohen teils nach Deutschland, meist aber nach Belgien, Frankreich und Großbritannien. Etliche deutsche Polenkomitees wie in Ludwigsburg unterstützten die Flüchtlinge, sammelten mit Aufrufen, Lotterien und Benefizkonzerten Geld- und Sachspenden. Daran beteiligte sich auch die württembergische Ehrbarkeit, unter anderem Ludwig Uhlands Frau und Justinus Kerner, hat der Historiker recherchiert.

Eine 1817 in Kleinasien ausgebrochene Choleraepidemie griff in den 1830er-Jahren nach Polen über, insofern bestand die Gefahr einer Verbreitung durch polnische Flüchtlinge in Westeuropa. Deshalb leisteten Ärzte, auch aus dem Königreich Württemberg, Hilfe in Polen, und die Regierungen gaben den Flüchtlingen die „Instradierung“ vor, ein festgeschriebenes Wege- und Übernachtungsnetz. Die Hauptroute nach Württemberg führte über Nürnberg, Crailsheim, Schwäbisch Hall und Öhringen nach Heilbronn, später über Tauberbischofsheim und Schwäbisch Gmünd. Die „Polenbegeisterung“ um 1830 war indes politisch gefährlich, da das Königshaus Württemberg mit der Zarenfamilie Romanow verschwägert war, und ab 1833 gab es einige Hochverratsprozesse gegen Republikaner, Offiziere und eine Tübinger Burschenschaft.

Etliche Exilpolen kämpften in Kriegen des 19. Jahrhunderts mit. So bildete man 1854 eine polnische Armee aus in Frankreich und England lebenden Polen für den Krimkrieg von 1853 bis 1856. Dabei kämpfte Russland gegen das Osmanische Reich, mit dem Frankreich und Großbritannien verbündet waren. Die polnische Armee ging nach dem Friedensschluss fast komplett in osmanische Dienste über. Auch im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 kämpfte eine polnische Legion mit. Sie war Teil der sogenannten Vogesenarmee aus Freiwilligen, darunter auch Freischärler, unter dem italienischen Guerillakämpfer Giuseppe Garibaldi. Erst kämpfte sie gegen Frankreich, dann wechselte sie die Seiten.

Damit endete Ortwin Köhlers „wahnsinniger Kosaken- und Husarenritt“ durch die polnische Geschichte, wie Zuhörer und Heimatgeschichtsforscher Christian Schweizer dessen Vortrag treffend charakterisierte.

Foto: E. Klaper Foto: A. Becherg
Spielball der Mächte

„Die Niederschlagung des Aufstands 1831/32 löste eine große Emigrationswelle aus.“

Ortwin Köhler,

Historiker

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Erstellt:
30. Januar 2021, 06:00 Uhr

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