Kem-Kem-Formation In Marokko
Warum dieses Delta einst gefährlichster Ort der Erdgeschichte war
Riesige Raubsaurier, Krokodile, Raubfische und fleischfressende Flugsaurier: Ein Delta im Südosten Marokkos war vor rund 100 Millionen Jahren vielleicht der gefährlichste Ort in der gesamten Erdgeschichte. Denn nirgendwo sonst gibt es eine so große Dominanz von großen Raubtieren.
Von Markus Brauer
In John Ronald Reuel Tolkiens (1892-1973) „Der-Herr-der-Ringe“-Universum ist die Frage nach dem gefährlichsten Ort einfach zu beantworten: Mordor mit dem Dunklen Turm Barad-dûr, das Reich und die Basis des bösen Hexenmeister Sauron. Doch was ist der gefährlichste Ort in der Erdgeschichte? Die überraschende Antwort: das Kem-Kem-Delta.
Kem-Kem-Delta im Cenomanium
Kem-Kem-Delta? Wenn Sie von diesem Ort noch nie etwas gehört haben, liegt das nicht an Lücken in Ihrem Allgemeinwissen. Zwar existiert diese geologische Region bis heute als Kem-Kem-Formation (Kem-Kem-Group), die an einem Steilhang im Südosten Marokkos an der Grenze zu Algerien liegt. Ihre Gesteinsschichten reichen zurück bis ins Cenomanium-Stadium der Oberkreide.
Zur Info: Das Cenomanium ist geologisch betrachtet die unterste Sedimentgesteinstufe der Oberkreide und umfasst den Zeitraum von 100,5 bis 93,9 Millionen Jahren. Es folgt auf das Albium (Unterkreide) und wird vom Turonium abgelöst. Die Kem-Kem-Gruppe .
Einst bevölkerten riesige Raubsaurier das Delta
Doch warum Delta? Die Region ist ein unwirtlicher, öder und staubtrockener Ort. Doch das war in der Oberkreide ganz anders. Damals bevölkerten riesige Raubsaurier, Krokodilen, Raubfische und fleischfressende Flugsaurier das Delta.
Und warum der gefährlichste Ort der Erdgeschichte? Weil es in den Äonen zuvor und danach nirgendwo sonst gibt es eine so große Dominanz von großen Raubtieren gab, wie Paläontologen herausgefunden haben.
Tyrannosaurus rex, Allosaurus, Giganotosaurus: Diese gewaltigen zweibeinig laufenden räuberische Dinos waren die Top-Prädatoren ihrer Zeit. Als Fleischfresser waren sie perfekt daran angepasst, selbst große Beute zu jagen und zu erlegen. Diese zahlenmäßig meist wenigen großen Räuber standen an der Spitze der Nahrungskette. Das war jahrzehntelang das paläontologische Credo.
Rätsel um viel zu viele große Raubtiere
Doch eine Fundstätte im Südosten Marokko vermittelte ein ganz neues Bild. Schon in den 1950er Jahren wurden in der rund 100 Millionen Jahre alten Kem-Kem-Formation viele Wirbeltier-Überreste gefunden. Doch was die Forscher erstaunte, war die eigenartige Verteilung der Fossilien. Die Knochen und Zähne stammten nämlich fast ausschließlich von fleischfressenden und dazu noch sehr großen Raubtieren. Wie konnte das sein?
Um dieses Rätsel zu lösen untersuchte der in Berlin geborene deutsch-marokkanische Wirbeltierpaläontologe und Vergleichende Anatom Nizar Ibrahim (der damals an der US-University of Chicago beschäftigt war und derzeit Senior Lecturer an der University of Portsmouth in England ist) mit seinem Team noch einmal alle alten sowie neuen Fossilfunde aus der Kem-Kem-Region und auch die Formation selbst.
Prädatoren zu Land, zu Wasser und in der Luft
Die Forscher fanden heraus, dass die außergewöhnliche Dominanz der großen Kreidezeit-Räuber der Wahrheit entspricht. Demnach lebten in diesem einst ausgedehnten Flussdelta vier riesige Raubdinosaurier.
Einer von ihnen war der rund 14 Meter lange, mit säbelartigen Reißzähen ausgestattete Carcharodontosaurus, einer der größten Fleischfresser der Erdgeschichte.
Zu ihm gesellten sich acht Meter lange Raptor Deltadromeus und der bis zu 15 Meter lange an die Jagd im Wasser angepasste Spinosaurus.
Carcharodontosaurus saharicus ("Lagarto con dientes de Tiburón del desierto del Sahara") fue un Dinosaurio terópodo que vivió durante el Cretácico, 99 a 94 millones de años aproximadamente) en la zona central norte de la antigua Gondwana (Marruecos, Argelia, Túnez y Egipto). pic.twitter.com/fEWp7TafdV — Warpath (@WarpathDinosaur) February 5, 2024
Im flachen Wasser und am Ufer des Deltas lauerten Urzeitkrokodile. In den Wolken kreisten Flugsaurier mit vier bis sechs Metern Flügelspannweite, die jederzeit von oben auf ihre Beute hinabstürzen konnten.
„Die Spanne reichte von rund einen Meter langen insekten- oder pflanzenfressenden Arten bis zu großen Fleischfressern mit zwölf Metern Länge“, schreiben die Wissenschaftler in der Fachzeitschrift „Zoo Keys“.
The Kem Kem Group monograph now ranks at #6 of the most visited papers ever published in @ZooKeys_Journal(artwork by Davide Bonadonna).Geology and paleontology of the Upper Cretaceous Kem Kem Group of eastern Morocco https://t.co/L7EuKlftvK via @ZooKeys_Journalpic.twitter.com/Hcoq9J7jhD — Nizar Ibrahim, PhD (@NizarIbrahimPhD) March 30, 2022
Einzigartiger Lebensort in der Erdgeschichte
Fehlte es dieser großen Anzahl an Fleischfressern nicht an Nahrung? „Die Wirbeltier-Fauna von Kem-Kem ist stark verzerrt – hin zu großen Fleischfressern“, erklären die Forscher. „Es gibt kein modernes terrestrisches Ökosystem mit einer vergleichbaren Dominanz großer Prädatoren.
Jeder Pflanzenfresser, der sich in dieses Delta verirrte, begab sich in Lebensgefahr. Denn ob an Land, im Wasser oder in der Luft: Überall lauerten gefräßige Räuber. „Dies war möglicherweise der gefährlichste Ort in der gesamten Geschichte unseres Planeten“, resümiert Ibrahim. „Ein Mensch hätte dort nicht lange überlebt.“
Wasserlebewesen dienten als Hauptnahrung
Doch wovon ernährten sich diese Predatoren? Den entscheidenden Hinweis auf die Frage lieferte die große Zahl von Fischfossilien in der Kem-Kem-Formation. „An diesem Ort wimmelte es förmlich vor absolut riesigen Fischen“, schreibt Koautor David Martill von der University of Portsmouth.
Wie etwa vier Meter lange Quastenflosser und Lungenfische. „Außerdem gab es dort den enormen Sägezahn-Hai Onchopristis mit Zähen wie hakenbesetzten Dolchen.“, so Martill. Dieser Raubfisch wurde bis zu zehn Meter lang.
Die Paläontologen vermuten, dass die ungewöhnlich vielen räuberischen Arten im Kem-Kem-Delta primär im Wasser lebende Beute erlegten. „Mit bisher mehr als 40 verschiedenen Fischarten und wahrscheinlich noch vielen weiteren mehr, müssen diese wasserlebenden Wirbeltiere die primäre Nahrungsquelle für die Prädatoren der Kem-Kem gewesen sein“, schreiben die Forscher. Dieser spezielle Speiseplan könnte auch erklären, warum so wenige Fossilien von pflanzenfressenden Landwirbeltiere gefunden wurden.
„Damit spiegelt auch die taxonomische und zahlenmäßige Dominanz der Raubdinosaurier die realen Gegebenheiten wider, auch wenn das Nahrungsnetz auf de ersten Blick unbalanciert erscheint“, bilanzieren die Wissenschaftler. Angesichts des reichhaltigen Nahrungsangebots aus dem Delta konnten die großen Raubdinosaurier überleben. Sie fraßen Fische und kleinere Räuber, die sich von den Wasserbewohner ernährten.