Was braucht der Patient Europa?

VHS-Gesprächsrunde über die Zukunft des Kontinents – Beunruhigende Entwicklungen und Frage nach gemeinsamem Fundament

Von Annette Hohnerlein

MURRHARDT. Welche Therapie braucht der kränkelnde Patient Europa, um wieder auf die Beine zu kommen? Etwas mehr Wertschätzung, Dialog und Sachkompetenz wären hilfreich, darin waren sich die Kunsthistorikerin Gabriele Rösch und der Historiker Matthias Hofmann bei der Diskussion an der Volkshochschule Murrhardt einig. Moderiert wurde die Veranstaltung von Christine Schick.

Wir haben der Europäischen Union viel zu verdanken: Frieden, Wohlstand, Freiheit. Aber das Staatenbündnis ist in den letzten Jahren in heftige Turbulenzen geraten. Die Eurokrise, die Flüchtlingsfrage, das Erstarken des Populismus und ganz aktuell der Brexit rütteln an den Grundfesten des gemeinsamen Hauses Europa.

Christine Schick, Redakteurin bei der Murrhardter Zeitung, moderierte die Gesprächsrunde an der Volkshochschule mit dem Titel „Wie geht es mit Europa weiter?“. Sie verwies auf zukünftige Herausforderungen der Gemeinschaft wie die Digitalisierung, den Klimawandel und die Schere zwischen Arm und Reich, die immer weiter auseinandergehe. Wie könnte eine zukunftsfähige EU aussehen? Diese Frage richtete sie an die beiden Gäste des Abends, die Kunsthistorikerin und Kuratorin der Städtischen Kunstsammlung Murrhardt, Gabriele Rösch, und den Historiker und Orientalisten Matthias Hofmann, der zwischen 2003 und 2012 interkultureller Berater der Bundeswehr war.

Ist Europa eine Einheit? Kann und muss es das überhaupt sein? Trotz der gemeinsamen Kultur und Geschichte sei Europa kein festgefügtes Gebilde, sagte Gabriele Rösch, sondern eher ein „Konglomerat aus Werten und Traditionen, das sich permanent durch Einflüsse von außen gewandelt hat“. Sie verwies auf den britischen Autor Ian Kershaw, der in seinem Buch „Achterbahn“ die Ansicht vertritt, Europa brauche keine gemeinsame Identität, sondern es sei besser, sich stattdessen auf gemeinsame Grundprinzipien wie Frieden, Freiheit, eine pluralistische Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu verständigen.

Um einen solchen gemeinsamen Wertekatalog zu erarbeiten, müsse man zuerst die bisherigen Mitgliedsländer auf einen Nenner bringen, bevor man neue aufnehme, so Matthias Hofmann. Die Osterweiterung der EU sei ein Fehler gewesen, „die ticken anders in Osteuropa“. Man brauche einen „Mechanismus, um mit Querulanten umzugehen“, forderte er und nannte als Beispiele Ungarn, Polen und Tschechien. Deutschland habe eine gewisse Führungsposition innerhalb der EU eingenommen, sagte Gabriele Rösch. Das habe dazu geführt, dass eine Diskussion auf Augenhöhe nicht gelungen sei. Mehr Wertschätzung und ein gleichberechtigter Dialog seien aber ein Ausgangspunkt für eine besser funktionierende EU.

Mehr Dialog auch im Verhältnis zu außereuropäischen Staaten statt „oberlehrerhaftem Auftreten“ forderte auch Matthias Hofmann. Die westeuropäische Sicht auf die Weltgeschichte sei nicht immer die richtige. Als Beispiel nannte er Afghanistan, wo eine europäisch geprägte Verfassung gescheitert sei. Die EU müsse auch nach außen verstärkt Allianzen schmieden, zum Beispiel mit Russland, um gemeinsam gegen die Weltmacht China bestehen zu können.

Die EU mit ihrem komplexen Apparat sei für ihre Bürger schwer zu durchschauen, sagte Gabriele Rösch. Mit der Folge, dass sich eine immer größere Opposition gegen Europa breitmache.

Dass die Bürger den Glauben an die EU verlieren, liege auch an der Qualität des Personals, das die Länder in die EU-Gremien schicken, meinte Matthias Hofmann. „Die EU-Kommissare sind abgehalfterte Politiker, die bis zur Rente versorgt werden sollen.“ Als Beispiel nannte er den ehemaligen baden-württembergischen Ministerpräsidenten Günther Oettinger. Er plädierte dafür, auch durch die Auswahl von Spitzenleuten ein Signal zu setzen, dass einem die Europäische Union wichtig sei.

In der anschließenden Diskussion mit dem Publikum ging es um die Bedeutung des (National-)Stolzes, mangelnde Qualifikation von Politikern, zurückgehendes politisches Interesse der Bürger, um die verloren gegangene Demonstrationskultur und die Notwendigkeit, den Menschen die positiven Seiten der EU deutlich zu machen.

„Müssen wir etwas von unserem Wohlstand abgeben, um den Frieden zu erhalten?“, fragte Christine Schick zum Abschluss der Diskussionsrunde. Ja, antwortete Hofmann und gab gleichzeitig zu bedenken, dass Politiker, die ein solches Kürzertreten propagieren, sicherlich nicht mehr gewählt würden. Gabriele Rösch sah den bevorstehenden Brexit als Gelegenheit für die Europäer, sich darüber klar zu werden, was ein solcher Schritt für ein Land bedeutet.

Zum Abschluss der Diskussion meldete sich Markus Götz, Kreisvorsitzender der Europa-Union Rems-Murr, zu Wort und appellierte an die Anwesenden, am 26. Mai zur Europawahl zu gehen.

Was braucht der Patient Europa?

© Jörg Fiedler

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Erstellt:
27. März 2019, 06:00 Uhr

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