Energiewende im Südwesten
Wie ersetzt Baden-Württemberg den Atomstrom?
Das vergangene Jahr 2024 war das erste seit 1961 ganz ohne Kernenergie in Deutschland. Doch kommt der Ersatz jetzt aus den AKWs in Frankreich, oder mussten wir sogar Kohlekraftwerke hochfahren? Ein Faktencheck.

© dpa/Uwe Anspach
Seit knapp zwei Jahren ist das Kernkraftwerk Neckarwestheim ganz abgeschaltet.
Von Thomas Faltin
Deutsche Atomkraftwerke abschalten, aber dann klammheimlich Atomstrom in Frankreich kaufen – darüber schütteln nicht nur Befürworter der Kernkraft heftig den Kopf. Aber stimmt diese Behauptung wirklich? Erstmals liegen nun Zahlen für das Jahr 2024 vor, also dem ersten vollen Jahr ohne eigene Atomenergie in Deutschland. Die letzten drei Atomkraftwerke waren im April 2023 vom Netz gegangen.
Bruno Burger, Professor am Fraunhofer-Institut für Solare Energiesystem in Freiburg, bereitet wichtige Energiedaten beinahe in Echtzeit im Internet auf. Und er kommt zu dem Fazit: „Der deutsche Strommix ist so sauber wie noch nie.“
Nur zwei Prozent sind französischer Atomstrom
Zunächst zu den bundesweiten Zahlen. Deutschland hat im vergangenen Jahr im Saldo rund 25 Terawattstunden (TWh) importiert. In den Jahren davor gab es dagegen fast immer einen Exportüberschuss. Der Wegfall der Atomkraft (2022 wurden noch 37 TWh erzeugt) musste 2023 und 2024 also tatsächlich durch deutlich höhere Importe ausgeglichen werden, zumindest teilweise. Allerdings: Nur knapp 13 TWh des importierten Stroms stammen aus Frankreich. Laut Bruno Burger werden rund 70 Prozent dieses Stroms in Kernkraftwerken erzeugt. Ergo machte französischer Atomstrom rund neun TWh im deutschen Stromnetz aus – bei insgesamt rund 430 TWh an erzeugtem und importiertem Strom entspricht das nicht einmal zwei Prozent. 2021, als in Deutschland noch sechs Kernkraftwerke liefen, trug der deutsche Atomstrom noch 12,3 Prozent zum Strommix bei.
Allerdings gibt es auch andere Zahlen. Nach den neuesten Daten der Bundesnetzagentur betrug der Anteil der importierten Atomenergie im vergangenen Jahr sogar 18,3 TWh. Will man es positiv ausdrücken: Der Anteil des Atomstroms an der gesamten verbrauchten Strommenge betrug 2024 rund nur noch 3,9 Prozent. Will man es negativ ausdrücken: 1,5 französische Kernkraftwerke laufen quasi nur für die deutschen Kunden. Zuletzt hat sich dieser Anteil auch erhöht. Im Jahr 2023 lag der Anteil der importierten Atomenergie bei 11,8 TWh.
Das Fazit lautet also: Ja, es wird nach dem Abschalten der deutschen AKWs Atomstrom importiert, aber die Menge ist deutlich geringer als jene, die früher in Deutschland produziert worden ist. Übereinstimmend sagen übrigens Bruno Burger und die Bundesnetzagentur: Dieser Strom wurde nicht importiert, weil er unabwendbar notwendig war, sondern weil der Strom in Frankreich deutlich billiger war und ist. Die deutschen Energieversorger hätten ihn sich sonst im eng vernetzten europäischen Strommarkt auch anderswo holen können. Wir importieren also vor allem weiter Atomstrom, weil er günstig ist.
Richtig ist auch: 2021 und 2022 waren Braun- und Steinkohlekraftwerke gegenüber 2020 um ein Viertel bis zu einem Drittel hochgefahren worden. Das lag 2022 am Ausfall französischer AKWs, zudem waren die Strompreise durch den Ukrainekrieg in die Höhe geschnellt. Das habe den Betrieb dieser Kraftwerke lukrativ gemacht, sagt Leonhard Probst vom Fraunhofer-Institut. Aber 2023 und 2024 war deren Anteil an der Stromproduktion wieder deutlich unter die Werte von 2020 gesunken. Bruno Burger betont deshalb: „So ein niedriges Niveau bei Braun- und Steinkohle hatten wir in Deutschland zuletzt im Jahr 1957.“
Für den Südwesten sieht die Lage nun etwas anders aus: „Baden-Württemberg ist traditionell ein Stromimportland“, betont die grüne Umweltministerin Thekla Walker. Rund 15 bis 20 Prozent des benötigten Stroms bezog das Land wegen der starken Industrie auch zu Atomkraftzeiten aus dem Ausland. 2023 und 2024 brach die Nettostromerzeugung in Baden-Württemberg durch die Schließung der AKWs aber stark ein. Im Jahr 2023 (die Zahlen für 2024 liegen noch nicht vor), als Neckarwestheim II als letztes Kernkraftwerk im Südwesten nur noch drei Monate lief, verdoppelte sich die Importmenge von 14 auf 29 TWh. 44 Prozent des Stroms wurden dadurch im Ausland erworben.
Nach Bayern hat der Südwesten am meisten Solaranlagen
Doch gilt in der Tendenz auch für Baden-Württemberg der bundesweite Trend: Die Importe aus Frankreich machten 2023 zwar knapp die Hälfte des zugekauften Stroms aus, aber insgesamt dürfte der Atomstromanteil an der gesamten Strommenge im Land laut Zahlen des Umweltministeriums doch nur bei 4,6 Prozent gelegen haben. Höher also als beim Bund, aber doch nicht dramatisch hoch. Im Jahr 2019 bezifferte sich der Atomstromanteil an der erzeugten Menge in Baden-Württemberg noch auf mehr als 37 Prozent.
Die CO2-Emissionen aus der Stromerzeugung waren im Südwesten laut einer Statistik des Umweltministeriums 2021 und 2022 nochmals deutlich nach oben gegangen, vor allem durch den verstärkten Einsatz der Kohlekraftwerke – zu dem Zeitpunkt lagen sie wieder fast auf dem Niveau von 1990. Mittlerweile sind die Emissionen wieder deutlich gesunken und befanden sich 2023 fast auf dem niedrigsten Niveau seit 1990. Nur 2020 hatte es durch die Coronapandemie einen noch niedrigeren CO2-Ausstoß gegeben.
Bundesweit lag der Anteil der erneuerbaren Energien bei dem Strom, der am Ende aus der Steckdose kommt, 2024 laut Bruno Burger bei 56 Prozent. In Baden-Württemberg machen die grünen Kraftwerke sogar fast 70 Prozent des hierzulande produzierten Stroms aus. Gerade die Sonne ist ein Trumpf: Der Südwesten liegt nach Bayern bei der installierten Solarleistung auf dem zweiten Platz, fast 28 Prozent des gesamten Stroms im Land entsteht in Photovoltaik-Anlagen (im Bund 14,5 Prozent). Der Strom aus Windrädern macht dagegen aufgrund der immer noch geringen Zahl an Anlagen „nur“ 9,4 Prozent aus (im Bund 33 Prozent).