Freiheit trifft Selbstbeschränkung

Die philosophische Marktstunde der Volkshochschule Murrhardt lädt dazu ein, sich zu verschiedenen Themen auszutauschen. Diesmal war die Runde mit Dorit Pusch und Kirstin Krack in der Stadtbücherei zu Gast, um über soziale Freiheit zu sprechen.

Greta Thunberg hat sich die Freiheit genommen, nicht zur Schule zu gehen, zu streiken und damit eine ganze Bewegung geschaffen. Künftig wird es aber auch um soziale Fragen gehen wie: Wer schränkt sich wie ein, um den Klimawandel zu begrenzen? Foto: A. Becher

© Alexander Becher

Greta Thunberg hat sich die Freiheit genommen, nicht zur Schule zu gehen, zu streiken und damit eine ganze Bewegung geschaffen. Künftig wird es aber auch um soziale Fragen gehen wie: Wer schränkt sich wie ein, um den Klimawandel zu begrenzen? Foto: A. Becher

Von Christine Schick

Murrhardt. Jutta Brasch, Leiterin der Murrhardter Stadtbücherei, freut sich, ihre Besucherinnen im neuen Lesecafé – dem langjährigen Herzensprojekt, das nun mithilfe einer Bundesförderung umgesetzt werden konnte – zu empfangen. Die Teilnehmerinnen nehmen mit Abstand an den Tischen und mit Blick auf den Stadtgarten Platz, um sich mit einem thematischen Spannungsfeld zu befassen: der sozialen Freiheit. Ein Begriff, der schon sprachlich markiert, dass Menschen als Teil von Gemeinschaften ihr Leben mit unterschiedlichen Freiheitsgraden gestalten können und dies mit Aushandlungsprozessen und/oder Konflikten einhergeht. Nicht zuletzt hat die Coronakrise dazu eine Menge sozialwissenschaftliches Material geliefert, was später auch noch zur Sprache kommt.

Coronabedingte Einschränkungen für andere auf Zeit waren in Ordnung

„Macht ihr euch morgens eigentlich bewusst, wenn ihr aufsteht, wie es um die eigene Freiheit bestellt ist?“, fragt Kirstin Krack. Jutta Brasch schüttelt den Kopf. Vielleicht, wenn sie in einem anderen Land leben würde, wo es nicht möglich ist, sich frei zu bewegen. In Deutschland fühle sie sich frei. „Mit Corona war es teils ja anders. Es gab Beschränkungen bei Treffen bis hin zur abendlichen Ausgangssperre“, stellt die Dozentin fest. Richtig, der Verzicht, um andere zu schützen, sei aber deshalb möglich gewesen, weil er zeitlich beschränkt war. Eine junge Teilnehmerin ergänzt, dass sie selbst da weniger Probleme hatte, nicht so der Ausgehmensch sei. Aber von Freunden und Bekannten habe sie gehört, „sie wussten einfach nichts mit sich anzufangen“.

Dorit Pusch sortiert: In der Philosophie gibt es die negative Freiheit, also die Abwesenheit von äußeren oder inneren Zwängen, und eine positive Freiheit, die an bestimmte Werte gebunden ist. Als komplexeres Modell von Axel Honneth (Frankfurter Schule) beschreibt sie die Unterscheidung zwischen einer ganz individuellen Form der Freiheit und einer, die aufgrund von Beziehungen unterschiedliche Interessen unter einen Hut bekommen muss. Gleichsam ist es möglich, sich bei Liebe und Freundschaft durch die Verbindung besonders frei zu fühlen. Diese soziale Freiheit beispielsweise in der Familie bedeutet aber auch Einschränkungen der persönlichen. „Das funktioniert letztlich auch auf gesellschaftlicher Ebene, man muss sich verständigen und austauschen über die unterschiedlichen Interessen und Wünsche“, sagt Dorit Pusch. Dies beschreibt dann der Begriff kommunikative Freiheit.

„Aber was, wenn beispielsweise Influencer auch auf Prozesse Einfluss nehmen?“, fragt Jutta Brasch. Sie habe von Wahlempfehlungen Einzelner im Netz für eine Partei gehört. Dorit Pusch nickt, wichtig sei hier als Bedingung eine herrschaftsfreie Kommunikation, manipulative Tendenzen seien nicht in diesem Sinne.

Es wird zusammengetragen: Die Manipulation kann auch in der politischen Debatte recht weit gehen bis hin zur Propaganda oder zu dem noch vergleichsweise neuen Phänomen der alternativen Fakten. Der Gegenpol: eine freie, lebendige Diskussion, was wiederum voraussetzt, dass der Einzelne das Wagnis eingeht, mit der eigenen Meinung öffentlich in Erscheinung zu treten. Was fehlt, wenn dies nicht gelingt? Die Freiheit oder das Sendungsbewusstsein? Einig ist sich die Runde darin, dass es viele Impulse braucht und die Kommunikation auf Augenhöhe stattfinden sollte.

Der Druck, der aus der Angst entsteht, den eigenen Lebensstandard nicht halten zu können, wird genauso angesprochen wie die Frage, weshalb das Netz nicht auch genutzt wird, um Anliegen im Sinne der eigenen Werte und Ziele zu transportieren. Die Diskussion mündet schließlich in der Frage, wie sich ganze soziale Bewegungen entwickeln können – trotz eines gewissen gesellschaftlichen Drucks. Greta Thunberg hat sich letztlich die Freiheit genommen, um – ausgestattet mit einem kleinen Pappschild – ihre Botschaft zu setzen, in den Klimastreik zu treten, und Jugendliche auf der ganzen Welt haben es ihr gleichgetan. „Dafür ist Demokratie aber die Voraussetzung. Wenn ich mich für etwas einsetze, ist es schon wichtig, keine Angst haben zu müssen, deshalb erschossen zu werden“, sagt eine Teilnehmerin.

„Aber haben wir mit einer sozialen Freiheit die Kraft, drängende Probleme zu lösen?“, fragt Kirstin Krack. Auch in Demokratien tun sich angesichts ungelöster Schwierigkeiten Verwerfungen auf sozialer Ebene auf. Ein Beispiel ist die Gruppe der Querdenker. Sie hat Selbstbeschränkungen in der Pandemie abgelehnt. Da dies aber mit dem fortschreitenden Klimawandel aller Voraussicht nach wieder Thema wird, sind Selbstbeschränkungen auch künftig wichtig beziehungsweise nicht aus der Diskussion wegzudenken, so die Überlegungen. Janusköpfige Technik: Künstler zeigt Überwachung und stellt Arbeit ins Netz
Als weitere Facette taucht die Frage auf, ob direkte Kommunikation zwischen Menschen vor Ort Dinge in positivem Sinne beeinflussen kann oder das Bedürfnis nach einem von Corona geprägten Alltag, der sich nicht allein im Netz abspielt, zurzeit einfach groß ist. Die Aufmerksamkeitsspanne jedenfalls scheint in Präsenz leichter hochgehalten werden zu können. Auch die Überwachungsmöglichkeiten steigen – Jutta Brasch berichtet von einem chinesischen Künstler, der den schmalen, nicht über Kameras in seinen Schritten aufgezeichneten Grad auf einer Straße abgebildet hat. Somit ist dies auch ein Beispiel dafür, wie das Netz im aufklärerischen, freiheitlichen Sinne genutzt werden kann.

Transformationsprozesse

Nächstes Thema Die Volkshochschule Murrhardt bietet die philosophische Marktstunde in losen Abständen an, nun geht sie erst einmal in die Winterpause. Das nächste Treffen mit Kirstin Krack und Dorit Pusch ist für Freitag, 4. Februar 2022, um 10 Uhr ebenfalls in der Stadtbücherei Murrhardt angesetzt. Das Thema: Transformationsprozesse der Gegenwart. Infos: https://vhs-murrhardt.de

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Erstellt:
5. November 2021, 06:00 Uhr

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