Häusliche Gewalt in Baden-Württemberg
Rechtsmedizinerin will Rund-um-die-Uhr-Versorgung – „Wir liefern wichtige Beweise für die Justiz“
Nicht waschen, nicht die Kleidung wechseln. Die Zeit ist knapp, um nach einer Gewalttat gegen Frauen Beweise zu sichern. Die Heidelberger Rechtsmedizinerin Kathrin Yen kämpft seit langem dafür, dass die Opfer von häuslicher Gewalt besser versorgt werden.

© Institut für Rechtsmedizin/Anne-Sophie Stolz
Kathrin Yen ist Leiterin des Instituts für Rechts- und Verkehrsmedizin der Uni Heidelberg. Ihr liegen die Lebenden ebenso am Herzen wie die Toten.
Von Hilke Lorenz
Es ist ein Aufbruch in Windeseile. Es klopft. Kathrin Yen geht kurz vor die Tür. Eben hat die Leiterin des Instituts für Rechts- und Verkehrsmedizin der Universität Heidelberg noch von Plänen für die Zukunft gesprochen. Sie will die Versorgung von Gewaltopfern weiter verbessern. Doch dann holt sie mit aller Wucht das Tagesgeschäft ein. „Ich darf Ihnen wegen der Schweigepflicht nichts sagen“, sagt die 56-Jährige, als sie wieder an ihrem Schreibtisch steht und schon am Zusammenpacken ist. Ihr Gesichtsausdruck sagt auch ohne Worte: es ist ernst.
Es ist Montagnachmittag. Gerade ist bei den Heidelberger Rechtsmedizinern die Nachricht eingegangen, dass in der Mannheimer Innenstadt ein Mensch mit seinem Auto durch die Fußgängerzone gerast ist. Im Rausgehen geht Yen mit ihrer Assistentin die Termine des morgigen Tages durch. Die meisten müssen auf die nächsten Tage verschoben werden. Yens Zeit gehört jetzt den Getöteten und den Verletzten.
Zwischen diesen beiden Gruppen bewegt sich ihre Tätigkeit. Zwischen den Lebenden und den Toten. Immer geht es dabei um Menschen, die Opfer von Gewalt geworden sind. Oft sind das Frauen und Kinder. Manchmal auch Männer und männliche Jugendliche. Unfallopfer. Aber meist geht es um häusliche Gewalt jeglicher Art. Ein Thema, über das die Professorin reden will, mit ruhiger Stimme aber durchaus mit Nachdruck. Denn Argumente für die Debatte um die adäquate Betreuung von Gewaltopfern kann sie aus ihrer Praxis reichlich beisteuern. Mehr als zwei Stunden hat sie sich vor ihrem ungeplanten Aufbruch dafür Zeit genommen. Die Hilfe für Gewaltopfer ist ihr ambitioniertes Lebensprojekt.
Sie sichert Beweise bei Gewaltopfern, zumeist bei Frauen und Kindern
Kathrin Yen gehört zu den Pionierinnen der Gewaltambulanzen – in Österreich und Deutschland. Mittlerweile gibt es in Baden-Württemberg weitere solche Einrichtungen in Stuttgart, Ulm und Freiburg. 24 Stunden, sieben Tage sollen die Woche Betroffene dort eine Anlaufstelle zur schnellen Beweissicherung der Spuren von Gewalt und auch, um Zugang zu weiterer Betreuung zu haben.
„Das ist unsere Verantwortung als Mitmenschen. Es ist das, was wir aktiv gegen Gewalt tun können: nicht wegzuschauen“, sagt Yen. „So können wir die Situation für Betroffene verändern.“ Aber auch gesellschaftlich verändere sich dann was. Wenn jede zweite Frau Gewalt erlebe, dann sei wahrscheinlich auch jede zweite Frau, die die Klinik betrete, Opfer von Gewalt. Draufschauen, nachfragen und sich kümmern, ist Yens Handlungsempfehlung.
Wer ist diese Frau? Was treibt sie an? Geboren 1968 in Bregenz, aufgewachsen mit drei Geschwistern durchstreifte sie früh die Natur, „wusste, wo ich welchen Salamander finde“, lebte ihre Neugierde aus. Noch heute lebt sie mit Hühnern und hat ihren Garten als Gegenpol zu den Grausamkeiten, die Menschen einandern antun. Schon als Kind wollte sie biologische Zusammenhänge verstehen. In der Vorarlberger Landesbibliothek, die ihr Vater aufgebaut hat, entdeckte sie als Heranwachsende eine kriminologische Zeitschrift und las von da an jede Nummer. Die Mischung aus Kriminalistischem, Wissenschaftlichem und menschlichen Schicksalen ließ sie nicht mehr los. „Ich war kein Nerd“, sagt sie, ein bisschen in sich gekehrt freilich schon. Auf alle Fälle erlebte sie die Geborgenheit einer intakten Familie. Ein Zufall, kein Verdienst, wie sie findet. „Andere haben nicht so viel Glück“. Sie versteht das offenbar unausgesprochen als Auftrag. Ihr Nachname stammt von ihrem Ehemann mit chinesischem Vater und Vorarlberger Mutter, den sie seit Kindergartentagen kennt.
Yen entschied sich schließlich für ein Medizinstudium, durchlief alle Fachrichtungen mit der ihr eigenen Neugierde. Sie saugte auf, war während der Zeit im Krankenhaus auch gerne bei den Menschen. Auch auf der Palliativstation, wo sie, wenn niemand anders da war, Sterbenden die Hand hielt. Die Abzweigung in die Rechtsmedizin nahm sie nach einem Praktikum am Institut für Rechtsmedizin der Uni Bern. Als sie bei der ersten Brandleiche, das war ihre Furcht, nicht umfällt, ist ihr klar: „Ich kann das und ich will das.“
Und sie dachte und entwickelte in den vergangenen zwei Jahrzehnten weiter, was sie während ihrer Zeit in Bern kennengelernt hat. Schon dort fuhren die Rechtsmediziner durchs Land, um Gewaltopfer zu untersuchen. Bei Yen landeten die Vergewaltigungsfälle. Ihr Fundus an Erfahrungen wuchs. Von ihrem Berner Chef übernahm sie die Überzeugung, die rechtsmedizinische Fachkompetenz nicht nur an den Toten, sondern auch an den Lebenden anwenden zu können.
Yen blieb an der Idee daran und bekam 2006 den Zuschlag für ein europäisches Sechs-Millionen-Euro-Projekt, um den Einsatz von bildgebenden Verfahren wie MRTs in diesem Kontext zu erforschen. „Zu wissen, wie das Fettgewebe unter blauen Flecken aussieht, kann uns viel Zusatzinformationen zu einer möglichen Straftat liefern“. An der Universität Graz richtete sie mit dem Geld eine Gewaltambulanz ein. Interdisziplinär mit Ärzten, IT-Experten und Juristen. „Der Bedarf war da, wir haben uns schnell mit Kliniken und der Opferhilfe vernetzt.“
Vier Gewaltambulanzen gibt es im Land
Yen hätte sich zurücklehnen und sich auf ihrem Erfolg ausruhen können. Doch dann kam 2011 der Anruf aus Heidelberg, der ältesten deutschen Universität und dazuhin auch noch eine Exzellenzuniversität, ob sie sich auf die frei werdende Institutsleitung bewerben wolle. Für ihr Kommen machte Yen in ihrem Bewerbungsverfahren die Einrichtung einer Gewaltambulanz zur Bedingung. „Ich bin auf offenen Ohren gestoßen“, erinnert sie sich. Mit der Berufung bekam sie gleich auch die Finanzierung für die ersten vier Jahre. Inzwischen sind das Land Baden-Württemberg und die Stadt Heidelberg in die Finanzierung eingestiegen. Über 1000 Menschen haben das Angebot der anzeigenunabhängigen Spurensicherung in Heidelberg im vergangenen Jahr genutzt. Die Befunde bewahrt das Institut auch für die drei weiteren Ambulanzen im Land auf, – unabhängig davon, ob die Betroffenen Anzeige erstatten wollen oder nicht.
Lotsensystem als Teil der Hilfe
Kathrin Yen war aber immer noch nicht so ganz zufrieden. Ihr Team und sie hatten beobachtet, dass die wenigsten Menschen nach dem Besuch der Gewaltambulanz dann auch zu einer Beratungsstelle gehen. „Menschen, bei denen wir massive Gewalt feststellen, gehen wieder heim und die Gewalt geht dort weiter, sodass man sich manchmal auch Sorgen um ihr Leben machen muss.“ Für Yen ein unhaltbarer Zustand. Sie besann sich auf ihre Kontakte zur Heidelberger Frauenbeauftragten und schaffte es, ein Lotsensystem zu installieren, das Frauen durch das Beratungsangebot begleitet.
Telemedizin im Einsatz für Gewaltopfer
Jetzt ist sie dran, das auch für die Gewaltambulanz am Klinikum Stuttgart voranzutreiben. Und dann ist ja noch die Telemedizin und das neue Projekt. Von Heidelberg will sie mit ihrem Team per Video-Zuschaltung Kliniken überall in Baden-Württemberg bei der Untersuchung von Gewaltopfern unterstützen. Mit dem Ziel, dass die Befunde für den Fall der Fälle gerichtsfest und verwertbar sind. Wahrscheinlich wird es immer so weiter gehen. Yen wird neue Ideen haben und Mitstreiter suchen. Offensichtlich ist sie dabei sehr überzeugend. Wahrscheinlich weil sie sich selbst so sehr für Neues begeistern kann und das auch lebt.
Anlaufstellen für Betroffene
Stuttgart Die Gewaltambulanz Stuttgart befindet sich am Klinikum Stuttgart direkt neben der Notaufnahme. Um einen Termin in der Gewaltambulanz Stuttgart zu vereinbaren ist eine telefonische Voranmeldung unter der Telefonnummer 0152/56783333 erbeten. Zu den Geschäftszeiten (Mo.-Fr. 08 – 17 Uhr) ist dort eine Untersuchung auch sehr kurzfristig möglich. Außerhalb der Geschäftszeiten gibt es eine Rufbereitschaft unter der Telefonnummer 0152/56783333. Für eine Untersuchung ist keine Überweisung notwendig.
HeidelbergDie Ambulanz Heidelberg steht nach telefonischer Terminabsprache unter der Telefonnummer 015/ 54648393 rund um die Uhr zur Verfügung. Der Untersuchungsort (Klinik, Arztpraxis, Polizei, Haftanstalt, Jugendamt, Institut für Rechtsmedizin) wird fallspezifisch im Vorgespräch vereinbart.