Stadtführung zur unsichtbaren Realität der Armut

Eine um digitale Inhalte erweiterte Stadtführung zum Thema Armut bietet die Möglichkeit, Stuttgart aus einer völlig neuen Perspektive zu erleben. Teilnehmende können das auch am eigenen Leib erfahren.

Von Laura Wallenfels

Stuttgart - Die Königsstraße glitzert und leuchtet vorweihnachtlich. Doch die festliche Beleuchtung in der Stuttgarter Innenstadt täuscht darüber hinweg, dass die Weihnachtszeit nicht für alle eine Zeit des Lichts ist. Für Obdachlose ist sie von Kälte und Isolation geprägt – eine Realität, die Conny aus eigener Erfahrung kennt. Neben der Kälte, die bei Minusgraden lebensgefährlich werden kann, wird vor allem die Einsamkeit zur unerbittlichen Begleiterin. „Es ist nicht nur das Wetter, das hart ist. Es ist die Einsamkeit“, sagt Conny, die selbst einige Zeit auf der Straße verbringen musste.

Seit 2023 ist Conny Teil des alternativen Stadtführungsprojekts von Trott-war. Sie erzählt bei Führungen durch die Innenstadt von einer Seite, die oft übersehen wird. Mit dem Stuttgarter Citizen-Kane-Kollektiv wurde der Stadtspaziergang unter dem Namen Ar-Mut um eine besondere Dimension erweitert: An ausgewählten Stationen eröffnen Audios und Videos auf dem eigenen Handy neue Perspektiven auf die Armut.

„Armut ist keine Kunst. Aber mit Kunst können wir darüber sprechen“, lautet das Motto des Stuttgarter Kollektivs für dieses Projekt. Die Führungen sollen den Zahlen ein Gesicht geben. Denn in Deutschland sind mehr als 14 Millionen Menschen von Armut betroffen. Sie gehört zu den drängendsten sozialen Herausforderungen. Trotzdem bleiben die Menschen hinter den Zahlen häufig unsichtbar. Die Schlange vor der Tafel mag länger werden, doch die individuellen Geschichten und sozialen Lebensumstände verschwinden oft aus dem Blickfeld. Das Projekt Ar-Mut nimmt sich dieser Lücke an, indem es Betroffenen eine Stimme gibt.

Bei der Premiere der Tour vor Kurzem dürfte den Teilnehmenden vor allem ein Moment in Erinnerung bleiben: Auf Connys Anregung hin setzte sich eine Teilnehmerin auf den Boden, direkt an den Rand der geschäftigen Königstraße. Minutenlang saß sie auf der Straße, während Passanten die Frau kaum eines Blickes würdigten. „Ich habe mich wie Luft gefühlt – ignoriert, minderwertig und ausgeschlossen“, beschrieb sie später ihre Erfahrung. Nur Kinder schenkten ihr ein neugieriges Lächeln.

Conny nutzte die Situation, um zu erklären, warum viele obdachlose Menschen ihre Not lieber verstecken. „Die Scham ist groß, gesehen zu werden“, sagte sie. „Manche kommen erst spät am Abend an öffentliche Plätze, um Begegnungen mit Bekannten zu vermeiden.“ Einen besonderen Platz im Leben vieler auf der Straße lebender Menschen nimmt ein Hund ein. Er ist Schutz, Wärme und treuer Begleiter in einem.

Die Führung ist Teil eines umfassenderen Projekts, das in der Dezember-Ausgabe der Straßenzeitung Trott-war ergänzt wird. Die Zeitung enthält eine Karte mit 24 Stationen entlang der Königstraße, an denen Text- und Bildbeiträge die Thematik vertiefen. QR-Codes führen zu Interviews, Audiobeiträgen, Musik und interaktiven 3D-Modellen, die eine erweiterte Realität schaffen und neue Perspektiven eröffnen.

Stadtführungen Weitere Führungen mit Conny von der Straßenzeitung Trott-war und dem Citizen-Kane-Kollektiv gibt es an den Donnerstagen, 12. und 19. Dezember. Beginn ist jeweils um 17 Uhr am Paulinenbrunnen am Rupert-Mayer-Platz. Karten gibt es im Internet unter: https://citizenkanekollektiv.ticket.io/

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Erstellt:
11. Dezember 2024, 22:08 Uhr
Aktualisiert:
12. Dezember 2024, 22:02 Uhr

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