Wo Zirkusgeschichte geschrieben wird
Innovativer Slapstick, Salti auf Weltrekordjagd, erotischer Zauber und sehr viel zum Lachen: Zum 30. Geburtstag übertrifft sich der Weltweihnachtscircus selbst. Dieses Bombardement an Highlights macht atemlos, aber glücklich. Nummern sind dabei, die schreiben Zirkusgeschichte.
Von Uwe Bogen
Stuttgart - Ein seitlicher Block der Kategorie Sperrsitz ist gut gefüllt mit Kindern. Wenn Chistirrin, das irre Energiebündel aus Mexiko, mit Weißclown Yan Rossi seinen Blödsinn macht, flippen die ganz jungen Zirkusfans aus, reißen die Hände hoch, beugen sich weit über die rote Absperrung, schreien und steigen als Faxenmacher voll mit ein. Allein ihre Gesichter beweisen, was für eine Magie Manegenzauber immer noch auslöst – in Zeiten, in denen man dachte, „the next generation“ wolle nur noch tiktoken. Aber nein: Analog ist kein Fake und deshalb doch viel besser!
Henk van der Meijden ist zweifacher Großvater, im Frühjahr kommt sein drittes Enkelkind. Vor 30 Jahren brachte der Holländer das Festival der artistischen Elite auf den Wasen und nannte es Weltweihnachtscircus, womit er seinen „Wereldkerstcircus“ aus Amsterdam übersetzte. Der Stuttgarter Partner Hans-Peter Haag war erst dagegen, weil das Wort nicht im Duden stehe. Heute weiß jedes Kind, was ein Weltweihnachtscircus ist – es gibt davon etwa 80 Nachahmer quer durch Deutschland.
Der 86-jährige Zirkusgründer, der die Geschäfte an Tochter Elisa van der Meijden, 34, und Schwiegersohn Dalien Cohen, 27, übergeben hat, hält die Familie hoch – privat wie beruflich. Nur dann habe der Zirkus zu Weihnachten, dem Familienfest, Erfolg, sagt er, wenn die gesamte Familie begeistert sei. Weshalb er die Eintrittspreise trotz steigender Kosten in diesem Jahr nicht erhöht.
Die van der Mejidens gestalten die Show so kontrastreich, damit alle was finden, das sie verzückt. „Für den Opa haben wir die Erotik der Luftartistin Liza Krutikova“, sagt Henks Frau Monica Strotmann und schmunzelt. Für die Teenies zielt Scharfschütze Alfredo mit verbundenen Augen auf seine Partnerin und trifft hauchdünn daneben.
Mal Thriller, mal Klamauk, mal Romantik, mal Poesie, mal Nervenkitzel, mal ein Solist, mal eine Großgruppe – die Mischung ist das Erfolgsrezept. Die Dramaturgie zielt auf alle Sinne, hält das Publikum in Atem, das in Orkanstärke jubelt. Man spürt Erfahrung der Holländer, aber auch Ehrgeiz, dem zirkusverwöhnten Stuttgart noch mehr zu bieten.
Zum 30. Geburtstag jagt ein Zirkushit den nächsten – beteiligt daran sind 100 Artisten, so viele wie noch nie. Henk van der Meijden schaut konzentriert zu, notiert, was kürzer werden soll. Mit drei Stunden ohne Pause ist die Show zu lang. Seine Leidenschaft hält ihn jung. Ans Geldverdienen allein denke der 86-Jährige nicht mehr, hört man. Auch beim 13-köpfigen Orchester wird nichts gekürzt. Richtig glücklich sei der Seniorchef, wenn er Zirkusgeschichte schreibt. Bei der Jubiläumsshow, für die bereits 90 000 Karten verkauft sind (vor einem Jahr waren es zu dieser Zeit 73 000), gelingt ihm dies gleich doppelt.
Wie werden Sensationen noch sensationeller? Entweder muss das Spektakuläre völlig anders gelagert sein. Oder man legt bei einem Klassiker zwei Schippen drauf. In den 80ern war ein vierfacher Salto ein Glanzpunkt, den nur wenige schafften. Erstmals wird dieser Salto Mortale gar dreimal nacheinander vorgeführt. Das ist Weltrekord!
Bei der Vorpremiere gelingt dies den Flying Caballeros (deren Eltern waren Trapezstars) bei vier Versuchen, nur ein Artist stürzt ins Netz. Der Jubel ist frenetisch.
Stuttgart schreibt damit fürwahr Zirkusgeschichte, weil diese Sensation erst 2025 nach Monte Carlo geht. Ein Anwärter auf den Goldenen Clown ist auch „die größte Fahrradnummer der Welt“ von der China National Acrobitcs Troupe. Die im Rekordtempo rasenden Radler durchbrechen das gekannte Aneinanderreihen von Tricks. Als „Windjäger“ überlisten sie Zentrifugalkräfte und verwandeln das Zelt in einen Hexenkessel.
Auf noch viel mehr Nummern kann sich das Publikum freuen, auf den Pferdeflüsterer Alex Giona etwa, der tierfreundlich, ja zärtlich mit seinen Vierbeinern umgeht. Pudel haben Spaß an ihren Kunststücken. Außerdem sorgen argentinische Tänzer, die größte russische Schaukel der Welt, Balance-Akte (man kann gar nicht alles aufzählen) dafür, dass nicht für eine Minute Langweile aufkommt. Nicht immer sind es die lauten Sensationen, die unter die Haut gehen.
Die kanadische Clownin Mooky zeigt mit innovativen Slapsticks leise, wie man mit kleinen Dingen verzückt. Am Ende verlassen Erwachsene, die in drei Stunden zu Kindern werden und sich fühlen wie die jubelnden Kids vom Sperrsitz, beglückt das Zelt. Danke, Familie van der Mejiden! Beim Weltweihnachtscircus sind alle Sorgen so richtig weit weg! Und das Leben ist wunderschön!
Vorverkauf Bis zum 6. Januar gastiert der Weltweihnachtscircus. Karten für 28 bis 72 Euro plus Vorverkaufsgebühr (Kinder und Senioren um fünf Euro ermäßigt) unter 0711 / 2 555 555.